Ganz am Ende des Buches steht nach all der Tristesse ein versöhnliches Bild. Eine Gruppe Radfahrer, Männer wie Frauen, Alte wie Kinder, fahren im Tross über die ganze Fahrbahnbreite verteilt aus einem Autobahntunnel Richtung Betrachterin, die Gegenspur ist leer. Dieses Bild wurde aufgenommen anlässlich der regelmäßig im Juni eines Jahres stattfindenden Sternfahrt, mit der Fahrradfahrer auf die Notwendigkeit hinweisen, mehr sichere Radwege in der Stadt zu bauen. Auf geradezu rührende Weise reklamieren sie für ein paar Stunden im Jahr auch die A100 für sich, die ikonisch wie kein anderes Bauwerk den destruktiven Geist der Stadt einfängt.
Die A100, die Stadtautobahn durch den westlichen Teil Berlins, geht zurück auf Planungen der unmittelbaren Nachkriegszeit. Errichtet wurde die halbkreisförmige sechsspurige Schnellstraße von den 1960er Jahren an, der Hochzeit der autogerechten Stadt, die dem ungehinderten Fluss des automobilen Verkehrs alle anderen Aspekte des urbanen Lebens unterordnete. Also durchschneidet die A100 auf ihren derzeitigen 28 Kilometern mitleidlos Wohngebiete, Gewerbeflächen und Grünanlagen; die Zubringertrasse AVUS zerbricht obendrein den Grunewald in zwei ungleich große Areale. Durch den Abriss einer Brücke in der Nähe eines viel befahrenen Dreiecks am Funkturm in der Karwoche erhält die A100 drückende Aktualität; wegen der damit einhergehenden Sperrung eines Streckenabschnittes wälzt sich der umgeleitete PKW-Verkehr durch die anliegenden Quartiere.
Der Fotograf Rolf Schulten ist die A100 zwischen 2021 und 2023 vom Wedding bis nach Schöneberg mit dem Fahrrad abgefahren und hat an zahlreichen Stellen das Betonband fotografiert. Dabei ging es ihm darum, die Autobahn ohne fahrende und stauende PKW und LKW abzubilden, wie sie die Alten noch aus der Zeit der Ölkrise 1973 kennen; frühe Morgenstunden und Geduld haben ihn Momente voll unerwarteter Leere einfangen lassen, die nun in einem Bildband der besonderen Art erschienen sind. Entstanden ist ein seltenes Porträt einer so allgegenwärtigen wie monströsen Verkehrsskulptur im Stil des Brutalismus, die mehr scheidet, als sie verbindet.
Eine Straße ist zwangsläufig mehr als die direkte Verbindung zwischen zwei Punkten. Sie wirkt zugleich als scharfe Differenz auf ihre Umgebung, als Grenze, die nur mit großer Vorsicht und oft unter Lebensgefahr überschritten werden kann. Dieses trennende Prinzip wird bei der Autobahn ins Extrem getrieben: Sie ist per definitionem dem motorisierten Verkehr vorbehalten, ihre abfallenden Wälle, ihre Stützpfeiler und vor allem der Baustoff Beton wirken wie die Elemente einer Grenzsicherung, die den alleinigen Sinn des Abstandhaltens haben. Ohne große Übertreibung kann die A100 als die zweite Berliner Mauer bezeichnet werden, die, anders als ihr Pendant des Kalten Krieges, keineswegs auf ihren Fall zusteuert, sondern unverdrossen auf einen Ausbau samt Modernisierung.
Das einstige Freiheitsversprechen der individuellen Motorisierung des Verkehrs hat sich längst in sein Gegenteil gewendet; der Stau, die Blockade, die Enge und der damit einhergehende Stress sind zum Signum des städtischen Verkehrs geworden. Doch vollzieht sich auf der Ebene der Verkehrspolitik das Paradox: Anstatt an Lösungen zur Reduzierung des gegebenen PKW-Bestandes zu arbeiten, werden noch mehr Straßen gebaut, die nur noch mehr Autos anziehen, die im Sinne einer hässlichen Mode größer, schwerer, höher und breiter werden und damit den Flächenfraß der Straßen samt der ergänzenden Infrastruktur aus Parkhäusern, Tankstellen, Ladesäulen, Werkstätten, Schildern, Schrottplätzen, Ampeln und Abstandsgrün nur noch befördern. Die automobile Gewalt hat eine unheilvolle Eigendynamik gewonnen.
Die Bilder des genannten Bandes geben der Betrachterin die Gelegenheit des Innehaltens und des ruhigen Blicks, der besonders geeignet ist, die sozialen Kosten der hemmungslosen Priorisierung des PKW-Verkehrs herauszustellen. Eine Aufnahme zeigt ein Mehrfamilienwohnhaus in der Nähe des ICC, das nur eine Handbreit von der Stadtautobahn entfernt liegt. Die Fassade ist durch die jahrelange Abgasexposition längst fahl und schmutzig geworden, alle Fenster sind geschlossen, auf den Balkonen ist kein Mensch zu sehen. Wer würde angesichts des stehenden Lärmes und der stickigen Luft auch nur zum Rauchen einer Zigarette auf den Balkon treten, geschweige dort ein Frühstück am Sonntag einnehmen? Der Wert dieser Immobilie wird durch die A100 sicher nicht gesteigert, bessere Viertel liegen abgeschieden und privat etwa im Westend oder am Schlachtensee.
Eine andere verstörende Aufnahme geht über die Gräber eines alten Friedhofes hinweg, durch die kahlen Bäume schimmert das nahe Asphaltband, Hinweisschilder zu Ausfahrten geraten ins Visier. Welche Seele könnte hier die ewige Ruhe finden? Eine andere Ausnahme zeigt längst aufgegebene, überwucherte und verrottete Gleise, über die sich in geringer Höhe die hellbeige Barriere eines Autobahnabschnittes spannt. Das sind die griffigen Folgen einer irrationalen Bevorzugung der Straße vor der Schiene, die entlang der alten Gleise eine für nichts nutzbare Brache entstehen lässt. Nicht einmal die ausgesprochen adaptiven Füchse, die längst im Zentrum der Metropole heimisch geworden sind, zeigen sich an diesem Unort. Im Zuge der Nachverdichtung wurde in Wilmersdorf binnen zweieinhalb Jahren ein schmaler Wohnriegel zwischen S-Bahn und Autobahn hochgezogen, der mit seinen blinden Fenstern wie ein begehbarer Schallreflektor wirkt.
Eine besondere Stärke eignet den Bildern, die aus der Froschperspektive aufgenommen wurden. Wie die Deckel eines Sarkophages liegen die Brücken der A100 gebieterisch über dem Geschehen, kaum Platz lassend für ein wenig mehr als zackige Graffiti auf dem Beton der Fundamente, mit denen unermüdliche Sprayer ihre Reviere markieren. Auf einem Bild ist eine wacklige Laube im abgetretenen Gras auszumachen. Solche Motive kennt man eher aus den Slums der Dritten Welt, wer will verscharrt unter der abweisenden Trasse leben oder sich hier auch nur aufhalten? Überhaupt haben Menschen es schwer an diesen Orten des Transits. Verloren wirkt ein Jogger, der sich ungläubig umschaut, als suchte er den Ausweg aus diesem steinernen Hades. Eine junge Skaterin hantiert mit ihrem Rollbrett, immerhin ist der Asphalt unter dem Brückendach glatt. Die Assoziation zu einem Gefängnishof, der keine Perspektive der Freiheit kennt, drängt sich auf.
Von einigen Bildern geht indes ein meditativer Sog aus, das sind jene, die vom eigentlichen Zweck der Autobahn abstrahieren können. Ein Zubringer schlängelt sich im hellen Tageslicht, es dominieren die geschwungenen Linien der Fahrbahnmarkierungen und der Leitplanken, eingefasst von Rasenresten. Die Kacheln an den Wänden eines Tunnels schimmern im schwachen Licht der Scheinwerfer, doch auch dies ein Ort zur Flucht. Eine Zufahrt geht einige Meter nach unten, trotzdem ist eine hohe Lärmschutzwand nötig, die endlos gerastert auch als Sichtblende fungiert. Sollen die Fahrer in ihren klimatisierten Blechen vom Elend der dreck-, krach- und vibrationsgeplagten Anwohner nicht behelligt werden? Nahezu Frieden verheißt ein diagonal eingefangener leerer Streckenabschnitt, der im Stile Gerhard Richters etliche Abstufungen in Grau anbietet. Doch auch hier ist es nur die Ruhe vor der jeden Moment ausbrechenden automobilen Sintflut.
Zeigen die zitierten Stillleben nun die Vergangenheit oder die Zukunft des motorisierten innerstädtischen Verkehrs? Die Aufnahmen selbst geben darüber keine Auskunft, dafür umso mehr die Projektierungen des Bundesverkehrswegeplanes. Der Abschnitt zwischen den Stadtteilen Neukölln und Treptow befindet sich kurz vor der Fertigstellung, für die Weiterführung Richtung Nordosten existieren schon verbindliche Planungen. Die A100 soll durch die östlichen Stadtteile Friedrichshain, Lichtenberg und Pankow weitergeschlagen werden, ein Schließen des würgenden Autobahnrings um das städtische Zentrum in den kommenden zwei Jahrzehnten wird damit drohende Realität. Die Kosten für den laufenden Kilometer beziffern sich auf rund 450 Mio. Euro.