Leibesheil

Schrammen sind sexy, Angstschweiß ist es nicht. – Wahrscheinlich Don Draper

Ganze sechzig Mal hat die Erde auf ihrer Umlaufbahn nun die Sonne umrundet, und wir sind noch immer hier. Mit William Shakespeare zu sprechen, belagern sechzig Winter meine Stirn; so lange hält keine Lampe durch, keine Nähmaschine und kein mobiles Telefon. Ein solide gebautes Haus fände sich nach so langer Zeit definitiv in den Jahren wieder und sollte vor einem Verkauf zumindest energetisch saniert werden, je nach Lage. Uns steht, wenn es statistisch optimal läuft, gegebenenfalls noch die Hälfte der bereits gelebten Zeit als Bonus in Aussicht. Wie werden diese Jahre sein, wo verbringen wir sie und mit wem? Wann stehen die Verwüstungen des Alters unter der Tür, und wie schlimm werden sie sein? Liegen genetische oder familiäre Dispositionen für Demenz, Diabetes, Rheuma, Herzinfarkt vor? Da es töricht ist, die Zukunft aus der Vergangenheit erschließen zu wollen, bleibt die schiere Gegenwart. Und ihr allein gilt unser Dank.

60 ist weniger demütigend als 58 oder 59. Es muss an den hohen zweiten Ziffern dieser Zahlen liegen, dass die 60 vergleichsweise unschuldig daherkommt, wohl wegen der 0, die nach Auftakt, Puder und weißem Blatt riecht. So oder so ist dieses Alter eine unwillkommene Gelegenheit, einen Blick zurückzuwerfen und Bilanz zu ziehen. Wir haben auf dieser Wegstrecke durch zum Teil unwegsames, ja unerschlossenes Gelände eine Menge gesehen, etwas genossen, manches nicht verstanden und gottlob vieles vergessen. Doch unsere Trinität, die von klein auf angelegt war und die sich mit dem Wachstum herausgebildet hat, bis sie die heutige Ausdifferenzierung erfuhr, besteht nach wie vor und wird uns auch weiterhin begleiten. Da ist der Leib, der seine Zellen einer Legende der modernen Medizin nach alle sieben Jahre erneuert und der sich dennoch nicht wesentlich wandelt. Er fühlt, wenn die Temperatur zum Duschen genau richtig ist, mit Schmerzen verbindet er Krankheit und Heilungsbedarf, er weiß, wann Oliven auf den Tisch gehören und wann Kirschen. Er beeindruckt durch die scheinbare Alltäglichkeit des Atmens und der Verdauung und schenkt mir die Besinnungslosigkeit des Schlafes. Der Körper hingegen, des Leibes Bruder, ist per se für die Öffentlichkeit gedacht. Er braucht den Raum, den er mit seinesgleichen teilt, er wird zur Zeichenfläche, die es anderen Körpern erleichtert, mit ihm zu kommunizieren. Das Alter, das Geschlecht, vermutlich der soziale Status und ganz sicher die ethnische Herkunft sind ihm unabweisbar eingeschrieben. Der Körper wird gemessen, beurteilt, gepflegt und sanktioniert, teils nach offen liegenden Gesetzen, teils nach impliziten Normen. Der Leib verschlingt die Freuden der Jugend und trägt die Bürde des Alters, der Körper hält beides auf Abstand, mit allem, was die Gesellschaft dafür bereithält. Und das Bewusstsein, das mich in jeder Sekunde „ich“ denken und fühlen sowie manchmal sagen lässt, teilt mit Körper und Leib eine Behausung. Es kann seinen konkreten Ort ändern, mal sitzt es hinter den Augen, mal nahe des Bauchnabels, aber immer unter der Haut.

Was hat dieser Leib nicht alles für mich getan. Geschätzte zwei Milliarden Mal hat das tapfere Herz ohne Pause das sauerstoffreiche Blut über die Arterien in die Muskeln gepumpt und das sauerstoffarme Blut über die Venen zum Ausatmen in die Lunge transportiert. Es wäre zu mühsam, die Zahl der Schritte auszurechnen, die die Füße auf dieser Erde bereits zurückgelegt haben, ihn von einem Ort zum nächsten zu tragen, über Treppenstufen, Waldwege, Pässe, Dschungelpfade, Alleen, Boulevards, Gletscher und Sandstrände. Das Fußgewölbe ist eingesunken, der Orthopäde verschreibt Einlagen, Pumps mit hohen Hacken sind nicht mehr tragbar, halb so wild, seitdem Mokassins zum Hosenanzug auch im Büro akzeptiert werden. Das Knie erweist sich als bleibender Schwachpunkt. Jener Orthopäde, der rege Verordnungen über Orthesen verteilt, plädiert seit Jahren für ein künstliches Gelenk, zu fortgeschritten sei der Schaden durch Arthrose. Ich will den Befund des Röntgenbildes gar nicht anfechten, zumal er sich mit den phasenweise auftretenden Schmerzen deckt. Die Bilder aus dem OP während des Einsatzes eines Gelenkes aus Titan haben das Gegenteil bewirkt: Die letzte Option wird so lange, wie es irgend geht, herausgeschoben, zu viel kann während und nach dem Eingriff schiefgehen, als dass er stürmisch angegangen werden sollte. Die Hüfte ist ein weiterer Gefahrenort meiner Generation, doch hier spüre ich noch keine Beschwerden.

Die Haut ist das größte Organ des Leibes wie des Körpers, sie fungiert als Grenze, Thermostat und Leinwand. Da ich die Anfänge und das Minimale liebe, habe ich mir kein Tattoo stechen lassen, als diese Mode zur Technozeit der 1990er Jahre aufkam. Welch ein Segen, gibt es einen betörenderen Schmuck als eine reine, gepflegte Epidermis? Die großflächigen Tätowierungen auf Armen, Rücken und Beinen, die in den Sommermonaten leider sichtbar werden, gemahnen an Blutergüsse, die Verfaltung und Verfettung der Trägerschichten verzerren die Motive. Kein Alkohol und keine Zigaretten sind die besten Tipps für eine saubere Haut, vegetarische Kost, Grüner Tee, wenig Sonne, regelmäßig Sport und ausreichend Schlaf nicht zu vergessen. Warum halten sich so wenige Menschen an dieses allgemein verfügbare Wissen? Wollen sie es so, fehlt ihnen ein Sinn für Stil und Ästhetik? Dummheit aus Naivität und Gruppenzwang? Egal, die Konsequenzen sind auch von den Ahnungslosen zu tragen. Die Produktion des Kollagen nimmt mit dem Alter sukzessive ab, in der Folge verlieren Haut und die nächste Gewebsschicht an Spannkraft, was besonders an den Oberarmen und am Dekolleté peinlich zu sehen sein kann. Faltenfüllen mit Botox bleibt keine Perspektive, neuerdings kommt eine spezielle Salbe aus der Apotheke zum Einsatz. Vielleicht hilft sie ja.

Mein Markenzeichen ist das Scarfing. Mit gerade 30 Jahren drängte der Krebs in mein Leben. Er nahm mir ein Stück Zunge und zerstörte mit einer opulenten Narbe über dem Schlüsselbein die Symmetrie des Oberleibes. Um an die Lymphknoten im Halsbereich zu gelangen, entfernten die Chirurgen linksseitig Venen, Muskeln, Drüsen und Gewebe, um einer Metastasenbildung Vorschub zu leisten. Dieses Ziel wurde im Verbund mit postoperativer Bestrahlung erreicht, medizinisch gelte ich nun 30 Jahre später als geheilt. Kein Maß jedoch halte ich in Händen, um die visuelle Beschämung zu ermessen, die durch die lila Narbe an prominenter Stelle auftritt. Ein halbierter Hals, ein verbranntes Stück Haut, ein fettes Keloid auf dem Kehlkopf – dass diese Kombination Menschen auf Distanz hält, ist nachvollziehbar, allein, weil es von den so Stigmatisierten so wenige gibt, ähnlich den Contergan-Überlebenden. Meine Halsbeweglichkeit ist eingeschränkt: Ich kann den Kopf nur angedeutet nach rechts drehen, weil es links keinen Muskel gibt, der die Rotation der Halswirbelsäule ausführen könnte. Adaptiv wie ich bin, atme ich beim Kraulen stets senkrecht ins Wasser aus und den Kopf hebend zur linken Seite ein. Schief hat es den Torso nicht gemacht, Arme, Beine und Bauchmuskeln arbeiten synchron und wechselseitig. Im Wasser kann ich mich nun entlang der Schädeldecke, der Fersen und der Lendenwirbel orientieren, im Hirn setze ich ihre Meldungen um in ein Abbild des Raumes, in dem ich mich bewege.

Ich mag es am Sommer, barfuß über die Dielen meiner Wohnung zu gehen und des nachts nackt im Doppelbett zu liegen. Es gehört zur Morgenroutine, mich nach dem Aufstehen, noch in den Fängen der Träume, in voller Größe im Spiegel zu mustern. Ich danke mir für den milderen, liebevolleren Blick, den ich meinem Leibe mittlerweile habe angedeihen lassen. Er ist weit weg von den eisernen Normen, nach denen Frauen geschätzt und klassifiziert werden. Er ist ein Zu-Leib: Er ist hier zu groß, dort zu klein, an dieser Stelle zu rund, an jener Partie zu scharf und in der Summe zu wenig sowie zu viel zugleich. Zumindest scheint er mir so, wenn ich mit meinen werbeverdorbenen Augen auf ihn blicke und ihn mit anderen Frauen vergleiche. Liege ich am Strand oder wandere ich in den Bergen, habe ich Freude an der wärmenden Sonne oder der meditativen Bewegung und kann von der Umgebung abstrahieren. Der Leib als Ganzes ist es, der mir behagt, wo ich mich daheim fühle, der für sich sorgen kann und mich damit beglückt. Körper und Bewusstsein haben ihren Anteil daran.

Nach einer mehr oder weniger friedlichen Kindheit mit Schwimmenlernen, Fahrradfahren, Reisen und Versteckenspielen brach die Katastrophe in Form der Pubertät im Leibe aus. Er wurde von Testosteron überschwemmt und chronisch vergiftet, ein wildes Tier erwachte zwischen den Lenden und gierte nach Fleisch, brüllend und mit schwefligem Atem. Das Bewusstsein riet verzweifelt zum Wegsehen, zum Beten, zum Schachspielen, zu Marcel Proust, kurz, zu allem, was irgend geeignet war, den Zumutungen des Männlichen zu entgehen. Der Körper wurde verfrüht auf die Bühne geschubst, kein Kostüm wollte passen, keine Rolle vom Tanzkurs über das Besäufnis als Initiation bis zum Rasen auf dem Motorrad schien geeignet, mein Ort war die Kulisse, aus der ich das sinnliche Treiben meiner Jahrgangsstufe verfolgen konnte, ohne daran beteiligt zu sein. Dieser intuitive Schutz durch Beobachtung hat mir oft geholfen und ist noch heute Teil meines Repertoires, das Leben zu leben, ohne in Konflikte zu geraten.

Der Krebs war ein Schicksal, die Geschlechtsangleichung unausweichlich – beides, ohne dass es eine Wahl gegeben hätte. Die erste Östrogenspritze kurz vor dem 24. Geburtstag war nichts weniger als ein Segen, ein Vorgriff auf die Erlösung. Die zwanghafte Unruhe, die den Leib gemartert hatte, verschwand, Sprunghaftigkeit und Aggressivität fielen von mir ab wie Schorf von einer sich schließenden Wunde. Der Bocksgeruch verflog zugunsten eines Lilienduftes, der primatenhafte Haarwuchs an Waden, Brust und Ellbogen verschwand, der Zitteraal im Schritt schnurrte zusammen. Jetzt nach 36 Jahren kann ich uneingeschränkt sagen, wie einzig und wie richtig diese nachholende Rückkehr zur Frau gewesen ist, ohne damals auch nur zu ahnen, welche Veränderungen mich erwarteten. Natürlich hat dieses Leben seinen Preis. Eine berufliche Karriere etwa als Anwalt oder als Architekt war damit passé, auch die Gründung einer Familie kam nicht länger in Frage. Doch stelle ich diesem Phantomschmerz die Genugtuung an die Seite, den Berg nicht nur erklommen zu haben, um von dort aus das Gelobte Land zu sehen, sondern um jenseits der Baumgrenze weiterleben zu dürfen.

Nach dem einschneidenden Erlebnis, das mit einem neuen Vornamen einherging – welcher erwachsene Mensch bekommt die Gelegenheit, sich den eigenen Namen auszusuchen? – blickte ich auf meinen anderen, veränderten, ja, gänzlich neuen Körper. Die Welt um mich herum war weiterhin geschlechtlich codiert, männlich und weiblich verhielten sich so komplementär wie oppositionell zueinander, tertium non datur. Bisher war ich mit einer Tarnkappe auf der Bühne unterwegs, nun in einer Robe. Instinktiv wurde mir klar, dass an Frauen andere Erwartungen gelegt werden als an Männer, dass sich ihr sozialer Raum anders bemisst als jener der Männer. Aber wie genau ich mich nun zu verhalten hatte, verstand ich erst nach einer Reihe von Aufführungen, egal wie gut das Drehbuch war, wie wohlwollend das Ensemble, wie einfühlsam der Regisseur und wie geduldig das Publikum. Jede Toilette, jeder Salon, jedes Kaufhaus und jeder Club formulieren Erwartungen und Zumutungen an Männer wie an Frauen; erst recht tun es Reisen in außereuropäische Kulturen mit eigenen Kleidervorschriften. Die meisten genügen ihnen von klein auf, einige wenige müssen Wortschatz und Grammatik dieser Sprache der Körper im Erwachsenenalter nachholen. Und im Rahmen dieses sozialen Prozesses werden die Automatismen, Verhaltensweisen und Einstellungen, die sich aus dem genetischen Programm der leiblichen DNS ergeben sollen, peu à peu unterlaufen und auf der Ebene des Körpers überschrieben, wie bei einem Palimpsest.

Ich liege neben meinem Liebhaber, mein Gesicht ruht auf seiner Brust, mein Arm umfasst seine Taille, ich inhaliere seinen Achselruch. Er ist noch benebelt, sein Dünsten zeugt von seiner tiefen Zufriedenheit an. Als ich meine Beine öffne und meinen rechten Schenkel über seinem kreuze, merke ich, dass meine Scham verklebt ist. Ich musste mich nie mit Fragen der Verhütung beschäftigen, mein jetziges Alter braucht hierauf sowieso keine Antwort. Ich betaste seinen Bizeps, den er mir zuliebe im Halbschlaf anspannt, weil er weiß, wie sehr ich es mag. Sein Griff ist fest, sein Blick klar und ruhig, er weiß, was er will und wie er es bekommt. Er füllt mich aus, ohne mir zu weh zu tun; ich stehe auf sein Japsen und Stöhnen, wenn er in mir kommt. Neulich hat mich eine junge Frau im Hof interessiert gemustert und zwinkernd gegrüßt; vermutlich wusste sie nun, welche Frau letzte Nacht so willig geschrien hatte.

Ich rolle mich aus dem Bett, ich muss mich für das Büro fertigmachen. Unter der Dusche betaste ich meine Brüste, die zwar die Größe von Mückenstichen haben, aber trotzdem zum Krebsziel werden können; alle zwei Jahre werde ich zur Mammographie bei der Frauenärztin eingeladen. Ich seife meinen schlanken Körper ein und schmunzle, als ich beim Schamhaar ankomme. Er hat mir gesagt, er möge es sehr, dass ich die Haare länger trüge. Ich brauchte einen Moment, um zu kapieren, dass er nicht meinen Scheitel meinte; halbwegs nüchtern erwiderte ich, dass ich schließlich kein kleines Mädchen sei. Nach dem Frottieren gebe ich mir eine Prise Talkum unter die Achseln, was besser wirkt als jedes Deo. Ich komme zurück ins Schlafzimmer, gebe ihm einen Kuss in den Nacken und ziehe mich an. Mein Calida passt genau, er zwickt nicht, kneift nirgendwo und hält, ohne zu pressen. Die perfekte Geschenkverpackung. Der Slip dazu ist schwarz, das taillenverstärkte weiße Leibchen formt ein wenig. Ins Schwimmbad gehe ich nicht im Bikini, sondern im Badeanzug, er schummelt mir Volumen und Rundungen.

Ich entscheide mich für ein rotes Etuikleid. Er wird rechtzeitig wach, um mir den Reißverschluss im Rücken zuzuziehen. Diese so alltägliche wie intime Geste macht mich so an, dass ich kurz davor bin, mich umzudrehen und mich auf ihn zu werfen. Ich beherrsche mich und stehe auf, ziehe das Kleid in Form und schlüpfe in die weißen Sneakers, die nach Regatta aussehen. Ich zupfe meine Haare im Spiegel über der Kommode zurecht und sehe, dass er mich dabei beobachtet, den Mund zu einem willigen Grinsen verzogen. Ich zwinkere ihm zu und ziehe meine vollen Lippen in Karmesin nach, heute bin ich ein Ausrufezeichen. Ich stecke mir zwei Bernsteinkugeln in die Ohrläppchen und lege eine Perlenkette um den lädierten Hals. Ich mustere mich von verschiedenen Seiten und gefalle mir sehr. Als er dann noch sagt, wie großartig ich aussehe und mir einen anerkennenden Klaps auf den Po gibt, will ich vor Freude heulen – dass ich dieses Glück haben darf.

Mein Leib gehört mir, mein Freund darf ihn besuchen, mein Körper aber geht raus in die Welt. Als ich an der Ampel warte, hupt ein Autofahrer und linst eindeutig zu mir herüber. Dieses Catcalling ist stets aufs Neue widerlich, ich habe mühsam gelernt, darüber hinwegzusehen, wenn auch mit Wut im Bauch. Beim Kreuzen der Straße mustert mich eine jüngere Frau gleicher Größe, wahrscheinlich als vergiftetes Kompliment gemeint. Ich bin ein öffentliches Wesen, das die Plätze, Straßen und Bahnen benutzt, um seiner Wege zu gehen und seinen Pflichten nachzukommen. An die Präsentation dieses Körpers werden konkrete Erwartungen angelegt: Ich darf nicht nackt sein, ich gehe besser vorwärts als rückwärts, ich remple Entgegenkommende nicht an, ich drängle mich in der Schlange nicht vor, ich signalisiere lächelnd Harmlosigkeit, ich schreie nicht rum und lache nicht laut, ich trage Frisur und bin dezent geschminkt, ich bin auf dem Stand der letzten Mode, ich halte einer Mutter mit Kinderwagen die Ladentür auf, ich senke die Augen, wenn ein Mann in meine Richtung blickt. Die Tiefe meiner Falten wird genauso registriert wie die Tönung meiner Haare, die Größe meiner Brüste, der Saum meines Kleides und die Länge meiner Fingernägel. Die Parfumerie gilt als mein natürliches Habitat, im Baumarkt werde ich beäugt, auf dem Spielplatz werde ich vermisst, allein in einer Bar werde ich als Escort taxiert.

Kein Mädchen weiß, wie es sich anfühlt, als Frau zu leben, bevor es eine geworden ist. Das gilt erst recht für Frauen mit Transitionshintergrund, wie ich eine bin. Im Gegensatz zu den Mädchen habe ich zusätzlich die Aufgabe, die Erinnerung an ein Jungenleben verblassen und im günstigsten Fall vergehen zu lassen. Dabei helfen mir Leib und Körper. Der Leib, der mich immer wieder positiv überrascht mit seiner Fähigkeit zur Bewahrung wie zur Erneuerung, zur Heilung wie zur Askese. Er nimmt sich das Richtige und kann das Giftige rechtzeitig erkennen und aussortieren. Er verzichtet auf Fleisch, liebt das Meer und den Wald, steht gern früh auf und fastet im Advent und vor Ostern. Er erfreut sich der Genüsse, die er bietet, er geht auf in der Rolle als Honigstreifen, den rauen Bären den Verstand zu rauben. Ich creme ihn täglich ein, schicke ihn zur Vorsorge in die Praxis und lasse ihn täglich Gymnastik machen, damit ich auch morgen ohne Ächzen das Bett verlassen kann.

Wer konnte ahnen, dass ich dereinst Männer lieben würde? Mit den lesbischen Beziehungen in den Jahren nach der Transition war ich zufrieden, ja, glücklich, seinerzeit annehmend, dass es dabei bleiben werde. Ich musste erst reif und erwachsen werden, um das Attraktive eines maskulinen Körpers zu erkennen und zuzulassen. Erst musste ich mich weit genug vom männlichen Leibe entfernen, um ihn als den Anderen, den Fremden begehren zu können. Dies erklärt auch, warum dezidiert schwule Begegnungen im jungen Erwachsenenalter das Falsche waren – ich war schlicht nicht Frau genug. Aber Gott der Allmächtige hat mir die Zeit geschenkt, diese Erfahrungen zu machen, sie nachzuholen und sie in mein Leben zu integrieren – Umwege erhöhen die Ortskenntnis. Zu dieser Kenntnis gehört es auch, den eigenen Körper als potentielles Risiko für den eigenen Leib zu begreifen, so paradox das klingen mag. Frauenkörper sind ein tendentiell öffentliches Gut, und jede Frau lernt, Situationen zu vermeiden, in denen es für sie gefährlich werden könnte: Abends U-Bahn zu fahren, im Dunkel im Park zu joggen, sich mit dem neuen Date beim ersten Mal in dessen Wohnung zu treffen.

Ich werde jenen Tag nie vergessen, als ich die erste Depotspritze in den Gesäßmuskel bekam und das Gegengift des Östrogens zu wirken begann. Im Jahr meiner Geburt endete das II. Vatikanum, starb Le Corbusier, bekam Nelly Sachs den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, debattierte der Deutsche Bundestag über die Verjährung der NS-Verbrechen. Im Jahr meiner Heilung bekam Polen den ersten Nichtkommunisten als Ministerpräsidenten, wurde der Autor Salman Rushdie vom Iran mit einer Fatwa belegt, protestierten etwa zwei Millionen Menschen in Estland, Lettland und Litauen für die Freiheit ihrer Länder, fiel die Berliner Mauer. In diesem Auf und Ab einer Welt in Bewegung und Aufruhr bekam ich unversehens eine zweite Chance. Ich empfinde es als zutiefst stimmig, dass sich mein Frauwerden praktisch in jenem Zeittraum vollzog, als der Kommunismus zusammenbrach und die UdSSR Geschichte wurde, als das Falsche, die Lüge und der Zwang abtraten und Platz machten für das Bessere, das Schöne, die Freiheit. Auf dieser Epochenschwelle meines Landes und meines Kontinentes begann mein neues Leben.

Ich habe anfangs gezögert, als mein Freund ein Bild von mir aus Teenietagen sehen wollte. Schließlich habe ich ihm meinen behelfsmäßigen Personalausweis gezeigt, den ich aus Gründen der Nostalgie aufgehoben habe. Das Antlitz mit den Aknegruben, die kurzen Haare, die schwere Lederjacke, die eckige Brille, vor allem der Vorname unter dem Foto stören mich nicht mehr, sie gelten nicht mir, sondern einem Verblichenen. Er nahm den Ausweis, blätterte in dem kartonierten Heftchen und schmunzelte, als er beim Bild angekommen war. Er sieht aus wie Dein kleiner Bruder, war sein Kommentar. Ich habe ihn schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen, er ist verschollen, antwortete ich halb ernst, halb neckisch. Egal, Hauptsache Du bist hier, schloss er. Ich rieb meine Stirn an seiner, strich ihm mit dem Daumen über die unrasierte Wange und küsste ihn zart auf den Mund. Das Wissen um meine Vergangenheit schien ihn nicht im Geringsten zu beeindrucken. Er strich mir mit der Hand die Schenkel empor und fuhr mir sanft unter den Rock. Ich löste mich aus der Umarmung und legte mich rücklings auf das Bett, selig, dass er genau das vorfinden würde, wonach es ihn verlangte.

Wann immer ich auf dem Sterbebett liegen und dem Tod als letztem Gast ins Auge sehen werde: Ich werde nicht verzagen, werde nicht bereuen, werde mir nicht vorwerfen, hätte ich doch jemals … Ich bin eine anfangs falsch eingetopfte Pflanze, die nachträglich ans richtige Ufer gesetzt wurde und mittlerweile im passenden Ökosystem Wurzeln geschlagen hat. In der Totalen lassen sich im unteren Drittel des Stammes Narben und Verwachsungen erkennen, die Äste darüber sind fest und ausladend, das Blätterdach voll und grün, die Früchte reif zum Pflücken. Ich danke meinem Leib, dass seine Vitalfunktionen so lange und so verlässlich durchgehalten haben – mögen sie es ungefragt weiter tun, ich vertraue seiner Intelligenz und achte seine Bedürfnisse. Ich liebe meinen Körper, der sich in der komplexen Welt zu behaupten weiß und sich einzufügen vermag in Vertraulichkeiten, Kollektive, Beziehungen. Er ist der Beginn des Gesprächs, er ist die Verbindung zu den anderen Menschen, den Geliebten und den Erduldeten. Als Scharnier zwischen beiden dient das Bewusstsein, das „ich“ sagt und alle drei meint. Wir sind dankbar für das Erreichte und wünschen uns weitere Tage der Freuden. Für heute gönne ich mir den Rausch einer afghanischen Schönheit, die meinen Leib wärmt und entspannt, meinen Körper erregt und mein Bewusstsein träumen lässt. Das ist eine aufgeräumte Stimmung, um vor meinen Schöpfer zu treten. Wenn ich es nicht vergesse, werde ich ihn im Moment des Übergangs fragen, warum er gerade mir dieses Schicksal zugedacht habe. Konnte er sich so sicher sein, dass ich es schon hinbekommen würde? Sei’s drum, Zeit, Geld, Mühe und Ausdauer waren gut investiert.