Mad men

Die Hälfte aller Werbeausgaben verpufft wirkungslos. Wenn ich nur wüsste, welche. – Henry Ford

Die Serie „Mad men“ beginnt mit einem Wortspiel. In der Umgangssprache der 1950er und 60er Jahre wurden die Werbeleute als „ad men“ bezeichnet. Diesen Titel schrieben sie selbst zu den „mad men“ um. Nicht in erster Linie, weil die Werbeindustrie ein Refugium für Unkonventionelle, gar Verrückte wäre, sondern weil in dieser Zeit sich zahlreiche Werbeagenturen in der New Yorker Madison Avenue drängten. Diese Prachtstraße der US-Wirtschaftsmetropole bildet den Hintergrund, vor der sich die Machtkämpfe in der fiktiven Agentur Sterling Cooper entfalten. Die Zeitreise in die 1960er Jahre ist in Teilen amüsant, hin und wieder ärgerlich und handwerklich durchweg hervorragend.

Die US-Fernsehserie „Mad men“ entstand zwischen 2007 und 2015, erste Episoden hierzulande gab es ab 2009 im Bezahlfernsehen zu sehen. Noch bis ins Frühjahr 2026 hinein sind alle bisher gedrehten sieben Staffeln synchronisiert auf Arte abzurufen. Der Sog, der von dieser Serie ausgeht, zeigt sich beim verspäteten Wiedersehen auf Deutsch; die preisgekrönte Geschichte um den so charismatischen wie rücksichtslosen Creative Director Don Draper (welche sprechender Name!) hat das Zeug, auch nach weiteren 20 Jahren angeschaut, kommentiert und kopiert zu werden. Das ist schon allerhand, was sich über eine TV-Produktion sagen lässt. Dabei ist jede Folge getreu der Kultur der Branche in kurze, in sich geschlossene Kapitel unterteilt – so lassen sich problemlos mehrere Werbefilme unterbringen, ohne dass es der Zuschauerin groß auffiele.

Allen Beteiligten voran, leisten die Dekorateure, die Schneider und die Friseure eine sagenhafte Arbeit bei der Ausstattung. Die steifen Anzüge der Männer, die wie Rüstungen getragen werden; die figurbetonenden Kleider der Frauen, die allesamt wie Geschenkverpackungen wirken; die Frisuren, der Schmuck und das Make-up; Möbel, Vasen, Aschenbecher und Schreibmaschinen zitieren sämtlich stilsicher die frühen 1960er Jahre mit ihren klaren Linien, den kontrastreichen Farbflächen und den zunehmend künstlichen Materialien. Der II. Weltkrieg ist seit 15 Jahren vorbei, die Wirtschaft brummt bei niedriger Arbeitslosigkeit, die Gesellschaft besteht mehrheitlich aus Konsumenten, technischer Fortschritt und Zukunftsoptimismus greifen um sich. In dieser Zeit des ökonomischen Wachstums, das noch keine ökologischen Grenzen kennt, drehen die Werbeagenturen am ganz großen Rad. Sie versprechen ihren Kunden weitere Marktanteile, sie verstehen sich als Zündkerze des Handels und definieren, welche Marken für den demonstrativen Konsum einer Zielgruppe taugen.

Im Zentrum dieser Armada aus Glücksrittern und Goldgräbern steht der fiktive Texter und Kreativchef Don Draper, für den der reale Werbemanager David Ogilvy Modell stand. Der große, starke, dunkle Don gilt als König der Kampagne, der noch jeden zweifelnden Kunden von seiner Idee überzeugen kann. Dabei strahlt Draper (eine Anspielung auf die Draperie, also allgemein die Verpackung oder speziell das schmeichelnde Arrangement eines Stoffes) eine Mischung aus Kälte, Hohn und Stahl wie ein Panzer aus. Einer Kundin, die zugleich eine seine zahllosen Affären ist, bescheidet er zynisch, dass es so etwas wie Liebe, nach der sie sich sehne, nicht gebe: Es seien Leute wie er, die die „Liebe“ erfunden hätten, um den Kundinnen Nylonstrümpfe zu verkaufen. Dieser Spruch fällt gleich in der Auftaktfolge der ersten Staffel und setzt den Ton der Partitur: Alles ist ein Geschäft, also profitieren wir davon.

Draper und seine Kollegen beginnen den Arbeitstag damit, dass sie ihren Sekretärinnen Hut und Mantel zum Aufhängen überlassen. Dann wird es Zeit für eine von etlichen filterlosen Zigaretten und den ersten unverminderten Bourbon des Tages. Meetings mit Kunden geraten zum Hahnenkampf, die Werbeleute konkurrieren nicht nur mit anderen Agenturen, sondern auch unter einander: Um mehr Geld, um das größere Büro, um den schmückenden Titel, um die kommende Dienstreise. Der Glaube an die Oberfläche hilft den Textern, Kontaktern und Grafikern, sich auf das Verkaufen zu beschränken und Diskussionen über den Sinn und Zweck des eigenen Tuns zu vermeiden. Das Buch „The hidden persuaders“ des Publizisten Vance Packard von 1957 haben sie sicher nicht gelesen, beherzigen seine Botschaften aber virtuos. Daher kommt es diesen im Kern unpolitischen Naturen eher ungelegen, auf Geheiß eines Seniorpartners Werbung für Richard Nixon in seinem Präsidentschaftswahlkampf 1960 gegen John F. Kennedy zu machen – den letzterer auch wegen seiner jugendlichen Bildschirmtauglichkeit für sich entschied.

Die Liebe zum Detail der „Mad men“ zeigt sich im Schnitt der schmalen Anzüge und ausladenden Kleider ebenso wie in den technischen Geräten. Kühlschrank, Radio, Plattenspieler und Fernseher gehören in beinahe jeden Haushalt, Autos in verschiedenen Größen locken mit einem Distinktionsgewinn, das Fliegen mit Pan Am ist noch einer kleinen Gruppe vorbehalten, erste Computer vom IBM füllen ganze Räume. Als ein fernes Wetterleuchten kündigt sich der Donner an, der in wenigen Jahren die heile Konsumwelt der Vorstädte erschüttern soll. Abtreibung ist illegal, aber die Pille zur Empfängnisverhütung kommt 1960 auf den Markt und trägt das ihre zur Emanzipation der Frauen bei. Die Invasion in der Schweinebucht, die Ermordung des Predigers Martin Luther King und fünf Jahre zuvor des Präsidenten sowie der eskalierende Vietnamkrieg können das Projekt Mondlandung nur kaschieren, der Konsens des Kaufens als Lebensinhalt bekommt erste Risse.

Draper ist wie geschaffen für die Rolle des finsteren Verführers, der der Kundschaft ihre offenen wie geheimen Wünsche diktiert. Er hat während des Koreakrieges eine tödliche Gelegenheit genutzt und die Identität eines anderen Soldaten angenommen, um seiner gewaltgeladenen Herkunftsfamilie zu entkommen. Für ihn ist der Wechsel seines Namens nicht mehr als das Annehmen eines neuen Jobs, Hauptsache mit einer besseren Bezahlung. Die Negation seiner Geschichte geht so weit, dass er seinen jüngeren Bruder, der ihn Jahre später aufspürt und ihn hilfesuchend aufsucht, eiskalt abweist und ihn in den Selbstmord treibt. Diese Brutalität wiederholt sich, als Draper, mittlerweile Partner der Agentur, einen Kollegen so sehr demütigt, dass dieser keinen anderen Ausweg als den Freitod sieht. Für den Don kein Grund, sein Verhalten zu ändern.

Er zeigt sich irritiert, dass die junge Sekretärin Peggy Olsen, die seine Telefonate entgegen nehmen, seinen Alkoholverbrauch kontrollieren und seine Liebschaften vertuschen soll, selbst Ambitionen zum Texten und Konzeptionieren zeigt und sich damit gegen alle Widerstände durchsetzt. Von seiner Gattin Betty in der Vorstadt, die er aus visuellen Gründen geheiratet hat, erwartet er, dass sie seine Mahlzeiten kocht, seine Hemden aus der Reinigung holt und die Kinder ruhigstellt. Auch die anderen Werbemänner legen dieses hegemoniale Verhalten an den Tag. Frauen sind für sie nicht nur Beute, sondern Freiwild; die Anwesenheit einer solchen in ihren Runden mindert ihren pubertären Wortschatz kein bisschen. Es ist jene Zeit, in der ein Mann zunächst ein Playboy sein darf, und die Frau sein Bunny.

Das Gehabe und die Zoten der „Mad men“ mögen den Klang der Zeit treffen, für heutige Ohren und Augen sind sie nur mit einer Mischung aus Verwunderung und Ironie zu ertragen, als wären sie reines Camp. Das gilt auch für den Umgang mit Homosexualität. Ein verkappt lebender Schwuler, der zum Schein geheiratet hat, erfährt an mehreren Stellen Avancen wichtiger Kunden. Als er einem besonders zudringlichen Freier einen Korb gibt, fordert dieser vom Agenturchef erbost seine Entlassung. Und weil es um einen Millionenetat geht, haben die Partner keine Probleme damit, ihren langjährigen Kollegen wie einen en passant geschlagenen Bauern vom Schachbrett zu nehmen. Es sind grausame Szenen wie diese, die den warnenden Hinweis an die Zuschauerinnen vor Beginn der Folge rechtfertigen.

Wege der Läuterung sucht das Publikum der „Mad men“ vergebens. Es gilt, in jeder Situation die Form zu wahren, comme il fault. Dazu gehört es, dass die Frauen die Seitensprünge ihrer Gatten stoisch hinnehmen, weil eine Scheidung noch schlimmer wäre als der fortwährende Betrug. Unter der Hand wird die Serie über die Werbeprofis zu einer Dekonstruktion der Macht. Männer haben sie über Frauen, Weiße haben sie über Schwarze, Städter haben sie über Farmer, stets aus dem gleichen Grund: Sie bekleiden Jobs, die besser bezahlt sind und ihnen alle weiteren gesellschaftlichen Türen öffnen, die jene nur aus der Ferne sehen. Jenen bleiben nur die Fluchten in den Traum: Junge Sekretärinnen lesen den Roman „Lady Chatterley“, ein schwarzer Fahrstuhlführer kauft absichtlich einen Fernseher, der sich an eine weiße Kundschaft richtet. Dass Peggy Olsen, die hartnäckige Texterin und selbst ernannte Karrierefrau, die am Ende zu Drapers Chefin wird, beruflich reüssiert, ist in den 1960er Jahren eine Seltenheit, auch in der vermeintlich liberalen Werbung mit ihrem Kult um Kunst und Kreativität.

Worin liegt der anhaltende Reiz der „Mad men“? Ist es ein Gefühl moralischer Überlegenheit, heute „weiter“ zu sein als damals? Ist es pure Nostalgie, gepaart mit der Freude an Dekor und Ornament? Ist es die Kombination aus heiler Welt, bonbonbunter Unschuld und beginnender Rebellion, die die 1960er Jahre historisch interessant machen? Gegebenenfalls von allem ein wenig. Es geschieht jedenfalls recht selten, dass eine Serie voller Abziehbilder und jeder Menge fieser Charaktere, noch dazu mit einem begrenzten TV-Budget (fast alle Szenen wurde im übertrieben kulissenhaften Studio gedreht, Außenaufnahmen sind rar), Lust auf die nächste Folge macht, auch wenn man schon vier en suite gesehen hat. Vielleicht aber gelingt es dem Produktionsteam einfach, eine verwickelte Geschichte zu erzählen, auf deren Fortgang die Zuschauerin erpicht ist. Dass die Werbung ihr schale Versprechen macht, weiß sie bei jedem Spot. Dass sie diese Versprechen nicht hält, weiß sie bei jedem Kauf. Aber ach, ins Geschäft muss sie ja, der Abendbrottisch deckt sich nicht von selbst. Gäbe es doch dafür eine KI.

Nobel

Give peace a chance – John Lennon

Der Oktober ist der Monat, in dem das zuende gehende Jahr Bilanz zieht. Am besten ablesbar ist es an der Bekanntgabe der Nobelpreise, den höchsten Auszeichnungen, die global in verschiedenen Disziplinen denkbar sind. Sie gehen zurück auf den Erfinder des Dynamits, Alfred Nobel, der von der zerstörerischen Wirkung des von ihm entwickelten Sprengstoffes so schockiert war, dass er mit der Stiftung seines Vermögens eine moralische Kompensation schaffen wollte. Ausgezeichnet werden sollten seit 1901 Personen und Organisationen, die einen Beitrag zur Befriedung der Welt leisteten.

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts sind weitere Nobelpreise hinzugekommen. Während die Entscheidungen des Komitees zu den Preisträgern in der Medizin, der Chemie und der Physik in aller Regel jene belohnen, die ihr Fach durch bahnbrechende Leistungen nach vorn gebracht und dergestalt das menschliche Leben freundlicher, sicherer und komfortabler gemacht haben, werden im Bereich der Wirtschaftswissenschaften die immergleichen Apologeten einer freien Marktwirtschaft ausgezeichnet. Der Literaturnobelpreis ist sicher derjenige in dieser Reihe, dessen Vergabe am schwierigsten ist. Welche Kriterien taugen, um eine Autorin zu würdigen, und zwar weltweit anerkannt? Vollends grotesk aber wird es bei der Vergabe des Friedensnobelpreises. In diesem Jahr hat sich, peinlich wie zu erwarten, der amtierende US-Präsident selbst vorgeschlagen – gottlob ist das Nobelkomitee in Oslo dieser Erpressung gegenüber standhaft geblieben.

Ein flüchtiger Blick auf die Liste jener, die den Preis in der Vergangenheit bekamen, zeigt die Ambivalenz der Ehrung. 2009 wurde der gerade gewählte US-Präsident Barack Obama ausgezeichnet – für seine wolkigen Ankündigungen, denen zahlreiche Drohnenmorde folgten, auch die Exekution Osama bin Ladens. 1973 bekam der seinerzeitige US-Außenminister Henry Kissinger den Preis – ausgerechnet jener Scharfmacher, der den Vietnamkrieg eskalierte. 2012 wurde mit der EU eine Wirtschaftsgemeinschaft ausgezeichnet, der schlicht die Mittel und der Wille fehlen, um Frieden zu schaffen. Regelrecht albern wurde es im Jahr 2001, als die Vereinten Nationen als Preisträger verkündet wurden – jene informelle Runde, die in ihren Resolutionen dauernd vom Veto eines der ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat blockiert wird. 1994 bekam mit Yasser Arafat ein bekennender Terrorist verzerrten Ruhm und echtes Geld.

Es sind die würdigen Ausnahmen, die den Nobelpreis von der Besudelung durch Grausamkeit, Menschenverachtung und Machtmissbrauch bewahren. Goldrichtig war die Verleihung 1964 an den US-Bürgerrechtler Martin Luther King, ebenso 1983 jene an den polnischen Gewerkschaftler Lech Walesa. Der Sowjetdissident Andrei Sacharow wurde 1975 ebenso zurecht gewürdigt wie die Ordensgründerin Mutter Teresa 1979. Im Jahr 2022 erhielt die mittlerweile verbotene russische Organisation Memorial den Preis für ihre beharrliche Dokumentation der Menschheitsverbrechen des Stalinismus, auch die ganz frühe Vergabe 1905 an die Autorin Bertha von Suttner („Die Waffen nieder!“) setzte das richtige Zeichen. Unterm Strich bleibt die Einsicht, dass der Friedensnobelpreis keinesfalls an Politiker, aktive wie ehemalige, gehen sollte, weil sie stets das Geschäft der Korruption, der Machtausdehnung und eben des Krieges betreiben. Es sind die unerschrockenen Aktivisten, Autoren, Humanisten und Helfer, die ihrem Treiben in den Arm fallen.

Als hätte es noch eines Belegs für diese These bedurft, lieferte der gegenwärtige US-Präsident ihn ungefragt. In gewohnt großmäuliger Manier reklamierte er die diesjährige Auszeichnung für sich – für was eigentlich? Wegen des Prestiges? Wegen der festlich gekleideten Gäste während der Verleihung in Oslo? Weil er vom Frieden in der Ukraine redet und den Iran bombardiert, Grönland annektieren will, das Militär im Inneren gegen Demonstranten einsetzt, das Verteidigungs- in Kriegsministerium umbenennt und Journalisten von seinen Pressekonferenzen ausschließt, die sein Gefasel vom Golf von Amerika nicht übernehmen? Das fünfköpfige Nobelkomitee in Oslo hat sich seiner Mafiadiktion bislang widersetzt und heuer eine defensive Entscheidung für eine venezolanische Oppositionspolitikerin getroffen. Mögen die Juroren standhaft bleiben angesichts des perversen medialen Drucks, den das Weiße Haus auf sie ausübt. Und mag die norwegische Regierung, immerhin ein NATO-Mitgliedsland, das Nobelkomitee nicht auf diplomatischem Wege dazu bewegen, in einem Akt der Unterwerfung den US-Machthaber im Jahr 2026 zu küren.

Zur Geschichte des Friedensnobelpreises gehört seine völlige Wirkungslosigkeit. Natürlich ist die Welt seit seiner Stiftung kein bisschen besser, gerechter, friedlicher und wohnlicher geworden. Hass, Neid, Missgunst und Gewalt sind um kein Jota zurückgegangen; mit alttestamentarischer Unerbittlichkeit gehen weiterhin Völker, Religionen, Nationen und Staaten aufeinander los, stets ausgerüstet mit den jeweils modernsten Waffen und den nur leicht variierten, uralten Rechtfertigungen. Diesen Schmerz muss jeder halbwegs sensible Mensch jeden Tag aushalten beim Lesen der Nachrichten. Und dann mit dem erloschenen Schweigen des Sisyphos den Brocken des Friedens den steilen Hang des Krieges hinaufrollen, im Wissen um die Vergeblichkeit und Unausweichlichkeit dieses Tuns. Politiker stehen bei dieser Übung auf der falschen Seite: Sie wollen, dass das Rauben, Vergewaltigen, Brennen und Morden weiter geht, solange es ihren Interessen dient.

Ein naiver Vorschlag für 2026: Die kanadische Sängerin Buffy Sainte-Marie, Jahrgang 1941, deren Lied „Universal Soldier“ 1965 in der Fassung von Donovan zu einer Antikriegshymne wurde. Sie könnte gleich zwei Nobelpreise einheimsen, den für Frieden und den für Literatur.

Vuelta

Die Vuelta a Espana ist eine der drei großen Rundfahrten im Radsportkalender. Sie findet traditionell im September statt und steht etwas im Schatten des Giro d’Italia und natürlich der Tour de France, die im Mai beziehungsweise im Juli eines Jahres die Radsportfans begeistern. Sportlich gibt es für diese leichte Missachtung keinen Grund. Giro, Tour und Vuelta gehen über 21 Etappen in drei Wochen, die Fahrer legen dabei jeweils über 3.300 Kilometer zurück und müssen ihre schmalen Leiber auf den dünnen Reifen über mächtige Berge quälen. In diesem Jahr steht die Vuelta aus politischen Gründen im Brennpunkt: Sogenannte Aktivisten kaperten im baskischen Bilbao die Strecke sowie den Zielbereich und bedrohten das teilnehmende Team Israel Premier Tech.

Es gibt keine Sportart, bei der die Zuschauer ihren Heroen so nahe kommen wie im Radsport. In Italien, Frankreich und eben jetzt in Spanien führt die Strecke immer wieder durch Dörfer und Städte, am Straßenrand stehen die Leute und feiern jubelnd ein Volksfest. Die allermeisten benehmen sich ordentlich und den Fahrern gegenüber umsichtig und respektvoll, lediglich bei den Bergetappen, bei denen das Tempo nicht bei 50, sondern eher bei 15 Kilometern pro Stunde liegt, drängen die Fans in Scharen auf die Straße und lassen den Rädern nur ein schmales Spalier. Dabei brüllen sie den Fahrern ins Gesicht und schwenken dabei Flaggen, ganz so, als wollten sie wie die Toreros in der Arena die wütenden Stiere reizen. Diesmal ist es in Spanien anders: Ein Meer palästinensischer Fahnen verdeckte im Baskenland alle anderen visuellen Signale, die lautstarken Parolen der Aktivisten übertönten selbst die Lautsprecher der Organisatoren. Das erklärte Ziel: Einen Vernichtungswillen gegen Israel Premier Tech zu äußern, stellvertretend für den Staat Israel. Schaut man in die Fratzen dieser Enthemmten, glaubt man ihnen ihre Morddrohungen gegen die Sportler aufs Wort.

In der ersten Woche der Spanienrundfahrt stellten sich während des Mannschaftszeitfahrens Aktivisten dem Team Israel Premier Tech in den Weg und behinderten so den Wettbewerb. Auf dem Weg nach Bilbao wurde der Prostet so gefährlich, dass die Rennleitung die Etappe um drei Kilometer verkürzte, um zu verhindern, dass das Peloton und der Mob im Ziel aufeinandertreffen konnten. Militante hatten die Absperrgitter im Zielbereich gelockert und machten Anstalten, diese auf die Straße und in das anrasende Feld zu stoßen. Politische Proteste bei Sportveranstaltungen jedweder Art kommen immer wieder vor, auch der Radsport ist davon nicht verschont; so haben vor zwei Jahren Klimaaktivisten versucht, eine Etappe der Tour de France zu stoppen. Dass es aber den Demonstranten gelingt, das Rennen zu manipulieren und seinen Abbruch zu erzwingen, ist ein Novum. Die gewaltsamen Proteste im Zuge des Hamassakers vom Oktober 2023 und des anschließenden Gazakrieges, die man von Berlin über Brüssel bis nach Paris und London zur Genüge kennt, sind nun auch in Bilbao abgekommen.

Die spanische Polizei hat sich nach Kräften bemüht, die Sicherheit der Fahrer und der friedlichen Beobachter zu gewährleisten. Bei einer Freiluftveranstaltung, die während sechs Stunden über 180 und mehr Kilometer durch zig Weiler geht, lässt sich beim besten Willen nicht alles kontrollieren. Das eigentlich Blamable aber ist die Reaktion der Vuelta-Organisation. Diese hat das Team Israel Premier zum Verlassen der Rundfahrt aufgefordert, um weiteren Schaden vom Rennen zu nehmen. Dessen Leitung hat dieses vergiftete Angebot erwartungsgemäß abgelehnt. Sportlich ist dem Team nichts anzulasten, daher der perverse Appell, sich doch von sich aus zurückzuziehen. Es sind jetzt also propalästinensische Gruppen, die diktieren, welche Teams an der sportlichen Konkurrenz teilnehmen dürfen und welche nicht. Und die Organisation des Rennens knickt hilflos vor dem Pöbel ein.

Israel Premier Tech, 2014 als Israel Startup Nation gegründet, wird von einem kanadisch-israelischen Geschäftsmann finanziert. Der viermalige Tour de France-Sieger Chris Froome wurde für viel Geld eingekauft, um der jungen Mannschaft zu Erfolg und Prestige zu verhelfen, er hat allerdings wegen seines fortgeschrittenen Alters und einer schweren Verletzung die in ihn gesteckten Erwartungen nie erfüllt. Die Profis kommen aus Belgien, Deutschland, Neuseeland, Kasachstan, Großbritannien, Lettland, Kanada, Australien, Frankreich und eben Israel. Eine solche internationale Besetzung eines Kaders ist im Radsport die Regel, nicht die Ausnahme. Die Sponsoren sind Unternehmen aus allen möglichen Branchen, vom Getränkehersteller bis zur Bank, vom Einzelhändler bis zum Internetdienstleister.

Aus der Reihe dieser Sponsoren, die sich von ihrem Engagement positive Rückkopplungen für ihr Geschäft versprechen, sticht das 2017 gegründete Team UAE, ebenfalls in Spanien am Start, heraus. Das Akronym steht für United Arabian Emirates, dahinter steckt das unermessliche Geld der Emirate aus dem Ölverkauf. Die Emirate haben vor über zwei Jahrzehnten eine Strategie für die Zeit nach dem Ölreichtum aufgesetzt. Mit architektonischen und städtebaulichen Großprojekten wie dem Burj Khalifa oder den Palm Islands soll die Wüste zwischen Dubai und Abu Dhabi als touristische Destination etabliert werden. Für reiche Geschäftsleute wurden die Steuern gesenkt und die Niederlassungsbedingungen vereinfacht. Mit dem Louvre in Paris wurde eine Kooperation geschlossen, um eine Dependance des Museumskomplexes am Golf zu schaffen. Und jüngst floss eine Menge Kapital aus dem Staatsfonds in das Megathema Künstliche Intelligenz.

Diese Imagekorrektur, zu der auch die Aufstellung eines Rennstalls um Superstar Tadej Pogacar gehört, wird konsequent und professionell betrieben. Allerdings sind die politischen und sozialen Bedingungen in der arabisch-muslimischen Welt, zu denen die Emirate gehören, mindestens heikel. Keine freien Wahlen, Todesstrafe, Gefängnis für Schwule, Frauen als Menschen zweiter Klasse und Christenfeindlichkeit sind nur die schlimmsten Stichworte. Dagegen wurde bei den großen Landesrundfahrten in Europa noch nie protestiert, die willfährigen TV-Kommentatoren sparen diese Themen völlig aus und spinnen die Legende des politisch neutralen und keimfreien Sportes munter weiter. Unter den Profis von UAE ist kein einziger Araber, dem Land fehlt jede sportliche Tradition abseits der Falkenjagd und der Kamelrennen. Mit einem Etat, der zu den größten der Branche zählt, können solche lässlichen Petitessen locker beiseite gewischt werden.

Israel Premier Tech verfolgt eine ähnliche Mission. Das Sportmarketing ist eine feste Größe nicht nur für Unternehmen und korrupte Organisationen wie das IOC und die FIFA, sondern auch für Staaten und Nationen geworden. Israel ist im Gegensatz zu den Vereinigten Arabischen Emiraten eine Demokratie mit einer unabhängigen Justiz, einer freien Wissenschaft und einer lebendigen, offenen Gesellschaft, sicher keine perfekte Republik, aber liberal und säkular. Das Land erlebt gerade die größte Krise seit seiner Gründung 1948. Umgeben von durchweg feindlich gesinnten arabischen Nachbarn, muss es sich mit dem Terror der vom Iran unterstützten Hamas auseinandersetzen. Und dass dieser Terror und seine Unterstützung sich nicht auf den Nahen Osten beschränken, erleben die von muslimischer Landnahme destabilisierten Länder Mittel- und Westeuropas spätestens seit dem Hamassaker. Importierte Judenfeindschaft in bislang ungekannter Dimension gehört in jenen Ländern zum traurigen Alltag.

Der Islam als aggressiv missionarische Religion, die keine anderen Glaubensrichtungen neben sich duldet, hat in Spanien im Mittelalter eine Blutspur gezogen. Über Nordafrika und das Mittelmeer drängten die Sarazenen auf die iberische Halbinsel und konnten erst nach einer jahrhundertelangen Reconquista im Jahr 1492 mit der Eroberung Granadas zurückgeschlagen werden. Seitdem bezieht Spanien seine Identität auch über den Katholizismus, dessen Stärke eine Reformation wie in Skandinavien nie zuließ. Die verstörenden Bilder, die derzeit aus Spanien in die Welt gehen, zeigen indes, wie fragil die demographische Lage vor Ort mittlerweile ist. Bei aller legitimen Kritik am Vorgehen der israelischen Armee im Gazastreifen gehen die gewaltsamen Aktionen speziell gegen das Team Israel Premier Tech über jedes vertretbare Maß hinaus. Es ist beschämend, dass die anderen Rennställe dieses brutale Vorgehen der Krakeeler nicht einhellig zurückweisen und sich mit ihren Kollegen solidarisieren. Dass aber die Organisatoren der Vuelta allen Ernstes die Fahrer des mit Schekel bezahlten Teams aus der laufenden Rundfahrt drängen wollen, ist eine demütigende Geste der Unterwerfung unter die Gewalt des Islam.

Leibesheil

Schrammen sind sexy, Angstschweiß ist es nicht. – Wahrscheinlich Don Draper

Ganze sechzig Mal hat die Erde auf ihrer Umlaufbahn nun die Sonne umrundet, und wir sind noch immer hier. Mit William Shakespeare zu sprechen, belagern sechzig Winter meine Stirn; so lange hält keine Lampe durch, keine Nähmaschine und kein mobiles Telefon. Ein solide gebautes Haus fände sich nach so langer Zeit definitiv in den Jahren wieder und sollte vor einem Verkauf zumindest energetisch saniert werden, je nach Lage. Uns steht, wenn es statistisch optimal läuft, gegebenenfalls noch die Hälfte der bereits gelebten Zeit als Bonus in Aussicht. Wie werden diese Jahre sein, wo verbringen wir sie und mit wem? Wann stehen die Verwüstungen des Alters unter der Tür, und wie schlimm werden sie sein? Liegen genetische oder familiäre Dispositionen für Demenz, Diabetes, Rheuma, Herzinfarkt vor? Da es töricht ist, die Zukunft aus der Vergangenheit erschließen zu wollen, bleibt die schiere Gegenwart. Und ihr allein gilt unser Dank.

60 ist weniger demütigend als 58 oder 59. Es muss an den hohen zweiten Ziffern dieser Zahlen liegen, dass die 60 vergleichsweise unschuldig daherkommt, wohl wegen der 0, die nach Auftakt, Puder und weißem Blatt riecht. So oder so ist dieses Alter eine unwillkommene Gelegenheit, einen Blick zurückzuwerfen und Bilanz zu ziehen. Wir haben auf dieser Wegstrecke durch zum Teil unwegsames, ja unerschlossenes Gelände eine Menge gesehen, etwas genossen, manches nicht verstanden und gottlob vieles vergessen. Doch unsere Trinität, die von klein auf angelegt war und die sich mit dem Wachstum herausgebildet hat, bis sie die heutige Ausdifferenzierung erfuhr, besteht nach wie vor und wird uns auch weiterhin begleiten. Da ist der Leib, der seine Zellen einer Legende der modernen Medizin nach alle sieben Jahre erneuert und der sich dennoch nicht wesentlich wandelt. Er fühlt, wenn die Temperatur zum Duschen genau richtig ist, mit Schmerzen verbindet er Krankheit und Heilungsbedarf, er weiß, wann Oliven auf den Tisch gehören und wann Kirschen. Er beeindruckt durch die scheinbare Alltäglichkeit des Atmens und der Verdauung und schenkt mir die Besinnungslosigkeit des Schlafes. Der Körper hingegen, des Leibes Bruder, ist per se für die Öffentlichkeit gedacht. Er braucht den Raum, den er mit seinesgleichen teilt, er wird zur Zeichenfläche, die es anderen Körpern erleichtert, mit ihm zu kommunizieren. Das Alter, das Geschlecht, vermutlich der soziale Status und ganz sicher die ethnische Herkunft sind ihm unabweisbar eingeschrieben. Der Körper wird gemessen, beurteilt, gepflegt und sanktioniert, teils nach offen liegenden Gesetzen, teils nach impliziten Normen. Der Leib verschlingt die Freuden der Jugend und trägt die Bürde des Alters, der Körper hält beides auf Abstand, mit allem, was die Gesellschaft dafür bereithält. Und das Bewusstsein, das mich in jeder Sekunde „ich“ denken und fühlen sowie manchmal sagen lässt, teilt mit Körper und Leib eine Behausung. Es kann seinen konkreten Ort ändern, mal sitzt es hinter den Augen, mal nahe des Bauchnabels, aber immer unter der Haut.

Was hat dieser Leib nicht alles für mich getan. Geschätzte zwei Milliarden Mal hat das tapfere Herz ohne Pause das sauerstoffreiche Blut über die Arterien in die Muskeln gepumpt und das sauerstoffarme Blut über die Venen zum Ausatmen in die Lunge transportiert. Es wäre zu mühsam, die Zahl der Schritte auszurechnen, die die Füße auf dieser Erde bereits zurückgelegt haben, ihn von einem Ort zum nächsten zu tragen, über Treppenstufen, Waldwege, Pässe, Dschungelpfade, Alleen, Boulevards, Gletscher und Sandstrände. Das Fußgewölbe ist eingesunken, der Orthopäde verschreibt Einlagen, Pumps mit hohen Hacken sind nicht mehr tragbar, halb so wild, seitdem Mokassins zum Hosenanzug auch im Büro akzeptiert werden. Das Knie erweist sich als bleibender Schwachpunkt. Jener Orthopäde, der rege Verordnungen über Orthesen verteilt, plädiert seit Jahren für ein künstliches Gelenk, zu fortgeschritten sei der Schaden durch Arthrose. Ich will den Befund des Röntgenbildes gar nicht anfechten, zumal er sich mit den phasenweise auftretenden Schmerzen deckt. Die Bilder aus dem OP während des Einsatzes eines Gelenkes aus Titan haben das Gegenteil bewirkt: Die letzte Option wird so lange, wie es irgend geht, herausgeschoben, zu viel kann während und nach dem Eingriff schiefgehen, als dass er stürmisch angegangen werden sollte. Die Hüfte ist ein weiterer Gefahrenort meiner Generation, doch hier spüre ich noch keine Beschwerden.

Die Haut ist das größte Organ des Leibes wie des Körpers, sie fungiert als Grenze, Thermostat und Leinwand. Da ich die Anfänge und das Minimale liebe, habe ich mir kein Tattoo stechen lassen, als diese Mode zur Technozeit der 1990er Jahre aufkam. Welch ein Segen, gibt es einen betörenderen Schmuck als eine reine, gepflegte Epidermis? Die großflächigen Tätowierungen auf Armen, Rücken und Beinen, die in den Sommermonaten leider sichtbar werden, gemahnen an Blutergüsse, die Verfaltung und Verfettung der Trägerschichten verzerren die Motive. Kein Alkohol und keine Zigaretten sind die besten Tipps für eine saubere Haut, vegetarische Kost, Grüner Tee, wenig Sonne, regelmäßig Sport und ausreichend Schlaf nicht zu vergessen. Warum halten sich so wenige Menschen an dieses allgemein verfügbare Wissen? Wollen sie es so, fehlt ihnen ein Sinn für Stil und Ästhetik? Dummheit aus Naivität und Gruppenzwang? Egal, die Konsequenzen sind auch von den Ahnungslosen zu tragen. Die Produktion des Kollagen nimmt mit dem Alter sukzessive ab, in der Folge verlieren Haut und die nächste Gewebsschicht an Spannkraft, was besonders an den Oberarmen und am Dekolleté peinlich zu sehen sein kann. Faltenfüllen mit Botox bleibt keine Perspektive, neuerdings kommt eine spezielle Salbe aus der Apotheke zum Einsatz. Vielleicht hilft sie ja.

Mein Markenzeichen ist das Scarfing. Mit gerade 30 Jahren drängte der Krebs in mein Leben. Er nahm mir ein Stück Zunge und zerstörte mit einer opulenten Narbe über dem Schlüsselbein die Symmetrie des Oberleibes. Um an die Lymphknoten im Halsbereich zu gelangen, entfernten die Chirurgen linksseitig Venen, Muskeln, Drüsen und Gewebe, um einer Metastasenbildung Vorschub zu leisten. Dieses Ziel wurde im Verbund mit postoperativer Bestrahlung erreicht, medizinisch gelte ich nun 30 Jahre später als geheilt. Kein Maß jedoch halte ich in Händen, um die visuelle Beschämung zu ermessen, die durch die lila Narbe an prominenter Stelle auftritt. Ein halbierter Hals, ein verbranntes Stück Haut, ein fettes Keloid auf dem Kehlkopf – dass diese Kombination Menschen auf Distanz hält, ist nachvollziehbar, allein, weil es von den so Stigmatisierten so wenige gibt, ähnlich den Contergan-Überlebenden. Meine Halsbeweglichkeit ist eingeschränkt: Ich kann den Kopf nur angedeutet nach rechts drehen, weil es links keinen Muskel gibt, der die Rotation der Halswirbelsäule ausführen könnte. Adaptiv wie ich bin, atme ich beim Kraulen stets senkrecht ins Wasser aus und den Kopf hebend zur linken Seite ein. Schief hat es den Torso nicht gemacht, Arme, Beine und Bauchmuskeln arbeiten synchron und wechselseitig. Im Wasser kann ich mich nun entlang der Schädeldecke, der Fersen und der Lendenwirbel orientieren, im Hirn setze ich ihre Meldungen um in ein Abbild des Raumes, in dem ich mich bewege.

Ich mag es am Sommer, barfuß über die Dielen meiner Wohnung zu gehen und des nachts nackt im Doppelbett zu liegen. Es gehört zur Morgenroutine, mich nach dem Aufstehen, noch in den Fängen der Träume, in voller Größe im Spiegel zu mustern. Ich danke mir für den milderen, liebevolleren Blick, den ich meinem Leibe mittlerweile habe angedeihen lassen. Er ist weit weg von den eisernen Normen, nach denen Frauen geschätzt und klassifiziert werden. Er ist ein Zu-Leib: Er ist hier zu groß, dort zu klein, an dieser Stelle zu rund, an jener Partie zu scharf und in der Summe zu wenig sowie zu viel zugleich. Zumindest scheint er mir so, wenn ich mit meinen werbeverdorbenen Augen auf ihn blicke und ihn mit anderen Frauen vergleiche. Liege ich am Strand oder wandere ich in den Bergen, habe ich Freude an der wärmenden Sonne oder der meditativen Bewegung und kann von der Umgebung abstrahieren. Der Leib als Ganzes ist es, der mir behagt, wo ich mich daheim fühle, der für sich sorgen kann und mich damit beglückt. Körper und Bewusstsein haben ihren Anteil daran.

Nach einer mehr oder weniger friedlichen Kindheit mit Schwimmenlernen, Fahrradfahren, Reisen und Versteckenspielen brach die Katastrophe in Form der Pubertät im Leibe aus. Er wurde von Testosteron überschwemmt und chronisch vergiftet, ein wildes Tier erwachte zwischen den Lenden und gierte nach Fleisch, brüllend und mit schwefligem Atem. Das Bewusstsein riet verzweifelt zum Wegsehen, zum Beten, zum Schachspielen, zu Marcel Proust, kurz, zu allem, was irgend geeignet war, den Zumutungen des Männlichen zu entgehen. Der Körper wurde verfrüht auf die Bühne geschubst, kein Kostüm wollte passen, keine Rolle vom Tanzkurs über das Besäufnis als Initiation bis zum Rasen auf dem Motorrad schien geeignet, mein Ort war die Kulisse, aus der ich das sinnliche Treiben meiner Jahrgangsstufe verfolgen konnte, ohne daran beteiligt zu sein. Dieser intuitive Schutz durch Beobachtung hat mir oft geholfen und ist noch heute Teil meines Repertoires, das Leben zu leben, ohne in Konflikte zu geraten.

Der Krebs war ein Schicksal, die Geschlechtsangleichung unausweichlich – beides, ohne dass es eine Wahl gegeben hätte. Die erste Östrogenspritze kurz vor dem 24. Geburtstag war nichts weniger als ein Segen, ein Vorgriff auf die Erlösung. Die zwanghafte Unruhe, die den Leib gemartert hatte, verschwand, Sprunghaftigkeit und Aggressivität fielen von mir ab wie Schorf von einer sich schließenden Wunde. Der Bocksgeruch verflog zugunsten eines Lilienduftes, der primatenhafte Haarwuchs an Waden, Brust und Ellbogen verschwand, der Zitteraal im Schritt schnurrte zusammen. Jetzt nach 36 Jahren kann ich uneingeschränkt sagen, wie einzig und wie richtig diese nachholende Rückkehr zur Frau gewesen ist, ohne damals auch nur zu ahnen, welche Veränderungen mich erwarteten. Natürlich hat dieses Leben seinen Preis. Eine berufliche Karriere etwa als Anwalt oder als Architekt war damit passé, auch die Gründung einer Familie kam nicht länger in Frage. Doch stelle ich diesem Phantomschmerz die Genugtuung an die Seite, den Berg nicht nur erklommen zu haben, um von dort aus das Gelobte Land zu sehen, sondern um jenseits der Baumgrenze weiterleben zu dürfen.

Nach dem einschneidenden Erlebnis, das mit einem neuen Vornamen einherging – welcher erwachsene Mensch bekommt die Gelegenheit, sich den eigenen Namen auszusuchen? – blickte ich auf meinen anderen, veränderten, ja, gänzlich neuen Körper. Die Welt um mich herum war weiterhin geschlechtlich codiert, männlich und weiblich verhielten sich so komplementär wie oppositionell zueinander, tertium non datur. Bisher war ich mit einer Tarnkappe auf der Bühne unterwegs, nun in einer Robe. Instinktiv wurde mir klar, dass an Frauen andere Erwartungen gelegt werden als an Männer, dass sich ihr sozialer Raum anders bemisst als jener der Männer. Aber wie genau ich mich nun zu verhalten hatte, verstand ich erst nach einer Reihe von Aufführungen, egal wie gut das Drehbuch war, wie wohlwollend das Ensemble, wie einfühlsam der Regisseur und wie geduldig das Publikum. Jede Toilette, jeder Salon, jedes Kaufhaus und jeder Club formulieren Erwartungen und Zumutungen an Männer wie an Frauen; erst recht tun es Reisen in außereuropäische Kulturen mit eigenen Kleidervorschriften. Die meisten genügen ihnen von klein auf, einige wenige müssen Wortschatz und Grammatik dieser Sprache der Körper im Erwachsenenalter nachholen. Und im Rahmen dieses sozialen Prozesses werden die Automatismen, Verhaltensweisen und Einstellungen, die sich aus dem genetischen Programm der leiblichen DNS ergeben sollen, peu à peu unterlaufen und auf der Ebene des Körpers überschrieben, wie bei einem Palimpsest.

Ich liege neben meinem Liebhaber, mein Gesicht ruht auf seiner Brust, mein Arm umfasst seine Taille, ich inhaliere seinen Achselruch. Er ist noch benebelt, sein Dünsten zeugt von seiner tiefen Zufriedenheit an. Als ich meine Beine öffne und meinen rechten Schenkel über seinem kreuze, merke ich, dass meine Scham verklebt ist. Ich musste mich nie mit Fragen der Verhütung beschäftigen, mein jetziges Alter braucht hierauf sowieso keine Antwort. Ich betaste seinen Bizeps, den er mir zuliebe im Halbschlaf anspannt, weil er weiß, wie sehr ich es mag. Sein Griff ist fest, sein Blick klar und ruhig, er weiß, was er will und wie er es bekommt. Er füllt mich aus, ohne mir zu weh zu tun; ich stehe auf sein Japsen und Stöhnen, wenn er in mir kommt. Neulich hat mich eine junge Frau im Hof interessiert gemustert und zwinkernd gegrüßt; vermutlich wusste sie nun, welche Frau letzte Nacht so willig geschrien hatte.

Ich rolle mich aus dem Bett, ich muss mich für das Büro fertigmachen. Unter der Dusche betaste ich meine Brüste, die zwar die Größe von Mückenstichen haben, aber trotzdem zum Krebsziel werden können; alle zwei Jahre werde ich zur Mammographie bei der Frauenärztin eingeladen. Ich seife meinen schlanken Körper ein und schmunzle, als ich beim Schamhaar ankomme. Er hat mir gesagt, er möge es sehr, dass ich die Haare länger trüge. Ich brauchte einen Moment, um zu kapieren, dass er nicht meinen Scheitel meinte; halbwegs nüchtern erwiderte ich, dass ich schließlich kein kleines Mädchen sei. Nach dem Frottieren gebe ich mir eine Prise Talkum unter die Achseln, was besser wirkt als jedes Deo. Ich komme zurück ins Schlafzimmer, gebe ihm einen Kuss in den Nacken und ziehe mich an. Mein Calida passt genau, er zwickt nicht, kneift nirgendwo und hält, ohne zu pressen. Die perfekte Geschenkverpackung. Der Slip dazu ist schwarz, das taillenverstärkte weiße Leibchen formt ein wenig. Ins Schwimmbad gehe ich nicht im Bikini, sondern im Badeanzug, er schummelt mir Volumen und Rundungen.

Ich entscheide mich für ein rotes Etuikleid. Er wird rechtzeitig wach, um mir den Reißverschluss im Rücken zuzuziehen. Diese so alltägliche wie intime Geste macht mich so an, dass ich kurz davor bin, mich umzudrehen und mich auf ihn zu werfen. Ich beherrsche mich und stehe auf, ziehe das Kleid in Form und schlüpfe in die weißen Sneakers, die nach Regatta aussehen. Ich zupfe meine Haare im Spiegel über der Kommode zurecht und sehe, dass er mich dabei beobachtet, den Mund zu einem willigen Grinsen verzogen. Ich zwinkere ihm zu und ziehe meine vollen Lippen in Karmesin nach, heute bin ich ein Ausrufezeichen. Ich stecke mir zwei Bernsteinkugeln in die Ohrläppchen und lege eine Perlenkette um den lädierten Hals. Ich mustere mich von verschiedenen Seiten und gefalle mir sehr. Als er dann noch sagt, wie großartig ich aussehe und mir einen anerkennenden Klaps auf den Po gibt, will ich vor Freude heulen – dass ich dieses Glück haben darf.

Mein Leib gehört mir, mein Freund darf ihn besuchen, mein Körper aber geht raus in die Welt. Als ich an der Ampel warte, hupt ein Autofahrer und linst eindeutig zu mir herüber. Dieses Catcalling ist stets aufs Neue widerlich, ich habe mühsam gelernt, darüber hinwegzusehen, wenn auch mit Wut im Bauch. Beim Kreuzen der Straße mustert mich eine jüngere Frau gleicher Größe, wahrscheinlich als vergiftetes Kompliment gemeint. Ich bin ein öffentliches Wesen, das die Plätze, Straßen und Bahnen benutzt, um seiner Wege zu gehen und seinen Pflichten nachzukommen. An die Präsentation dieses Körpers werden konkrete Erwartungen angelegt: Ich darf nicht nackt sein, ich gehe besser vorwärts als rückwärts, ich remple Entgegenkommende nicht an, ich drängle mich in der Schlange nicht vor, ich signalisiere lächelnd Harmlosigkeit, ich schreie nicht rum und lache nicht laut, ich trage Frisur und bin dezent geschminkt, ich bin auf dem Stand der letzten Mode, ich halte einer Mutter mit Kinderwagen die Ladentür auf, ich senke die Augen, wenn ein Mann in meine Richtung blickt. Die Tiefe meiner Falten wird genauso registriert wie die Tönung meiner Haare, die Größe meiner Brüste, der Saum meines Kleides und die Länge meiner Fingernägel. Die Parfumerie gilt als mein natürliches Habitat, im Baumarkt werde ich beäugt, auf dem Spielplatz werde ich vermisst, allein in einer Bar werde ich als Escort taxiert.

Kein Mädchen weiß, wie es sich anfühlt, als Frau zu leben, bevor es eine geworden ist. Das gilt erst recht für Frauen mit Transitionshintergrund, wie ich eine bin. Im Gegensatz zu den Mädchen habe ich zusätzlich die Aufgabe, die Erinnerung an ein Jungenleben verblassen und im günstigsten Fall vergehen zu lassen. Dabei helfen mir Leib und Körper. Der Leib, der mich immer wieder positiv überrascht mit seiner Fähigkeit zur Bewahrung wie zur Erneuerung, zur Heilung wie zur Askese. Er nimmt sich das Richtige und kann das Giftige rechtzeitig erkennen und aussortieren. Er verzichtet auf Fleisch, liebt das Meer und den Wald, steht gern früh auf und fastet im Advent und vor Ostern. Er erfreut sich der Genüsse, die er bietet, er geht auf in der Rolle als Honigstreifen, den rauen Bären den Verstand zu rauben. Ich creme ihn täglich ein, schicke ihn zur Vorsorge in die Praxis und lasse ihn täglich Gymnastik machen, damit ich auch morgen ohne Ächzen das Bett verlassen kann.

Wer konnte ahnen, dass ich dereinst Männer lieben würde? Mit den lesbischen Beziehungen in den Jahren nach der Transition war ich zufrieden, ja, glücklich, seinerzeit annehmend, dass es dabei bleiben werde. Ich musste erst reif und erwachsen werden, um das Attraktive eines maskulinen Körpers zu erkennen und zuzulassen. Erst musste ich mich weit genug vom männlichen Leibe entfernen, um ihn als den Anderen, den Fremden begehren zu können. Dies erklärt auch, warum dezidiert schwule Begegnungen im jungen Erwachsenenalter das Falsche waren – ich war schlicht nicht Frau genug. Aber Gott der Allmächtige hat mir die Zeit geschenkt, diese Erfahrungen zu machen, sie nachzuholen und sie in mein Leben zu integrieren – Umwege erhöhen die Ortskenntnis. Zu dieser Kenntnis gehört es auch, den eigenen Körper als potentielles Risiko für den eigenen Leib zu begreifen, so paradox das klingen mag. Frauenkörper sind ein tendentiell öffentliches Gut, und jede Frau lernt, Situationen zu vermeiden, in denen es für sie gefährlich werden könnte: Abends U-Bahn zu fahren, im Dunkel im Park zu joggen, sich mit dem neuen Date beim ersten Mal in dessen Wohnung zu treffen.

Ich werde jenen Tag nie vergessen, als ich die erste Depotspritze in den Gesäßmuskel bekam und das Gegengift des Östrogens zu wirken begann. Im Jahr meiner Geburt endete das II. Vatikanum, starb Le Corbusier, bekam Nelly Sachs den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, debattierte der Deutsche Bundestag über die Verjährung der NS-Verbrechen. Im Jahr meiner Heilung bekam Polen den ersten Nichtkommunisten als Ministerpräsidenten, wurde der Autor Salman Rushdie vom Iran mit einer Fatwa belegt, protestierten etwa zwei Millionen Menschen in Estland, Lettland und Litauen für die Freiheit ihrer Länder, fiel die Berliner Mauer. In diesem Auf und Ab einer Welt in Bewegung und Aufruhr bekam ich unversehens eine zweite Chance. Ich empfinde es als zutiefst stimmig, dass sich mein Frauwerden praktisch in jenem Zeittraum vollzog, als der Kommunismus zusammenbrach und die UdSSR Geschichte wurde, als das Falsche, die Lüge und der Zwang abtraten und Platz machten für das Bessere, das Schöne, die Freiheit. Auf dieser Epochenschwelle meines Landes und meines Kontinentes begann mein neues Leben.

Ich habe anfangs gezögert, als mein Freund ein Bild von mir aus Teenietagen sehen wollte. Schließlich habe ich ihm meinen behelfsmäßigen Personalausweis gezeigt, den ich aus Gründen der Nostalgie aufgehoben habe. Das Antlitz mit den Aknegruben, die kurzen Haare, die schwere Lederjacke, die eckige Brille, vor allem der Vorname unter dem Foto stören mich nicht mehr, sie gelten nicht mir, sondern einem Verblichenen. Er nahm den Ausweis, blätterte in dem kartonierten Heftchen und schmunzelte, als er beim Bild angekommen war. Er sieht aus wie Dein kleiner Bruder, war sein Kommentar. Ich habe ihn schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen, er ist verschollen, antwortete ich halb ernst, halb neckisch. Egal, Hauptsache Du bist hier, schloss er. Ich rieb meine Stirn an seiner, strich ihm mit dem Daumen über die unrasierte Wange und küsste ihn zart auf den Mund. Das Wissen um meine Vergangenheit schien ihn nicht im Geringsten zu beeindrucken. Er strich mir mit der Hand die Schenkel empor und fuhr mir sanft unter den Rock. Ich löste mich aus der Umarmung und legte mich rücklings auf das Bett, selig, dass er genau das vorfinden würde, wonach es ihn verlangte.

Wann immer ich auf dem Sterbebett liegen und dem Tod als letztem Gast ins Auge sehen werde: Ich werde nicht verzagen, werde nicht bereuen, werde mir nicht vorwerfen, hätte ich doch jemals … Ich bin eine anfangs falsch eingetopfte Pflanze, die nachträglich ans richtige Ufer gesetzt wurde und mittlerweile im passenden Ökosystem Wurzeln geschlagen hat. In der Totalen lassen sich im unteren Drittel des Stammes Narben und Verwachsungen erkennen, die Äste darüber sind fest und ausladend, das Blätterdach voll und grün, die Früchte reif zum Pflücken. Ich danke meinem Leib, dass seine Vitalfunktionen so lange und so verlässlich durchgehalten haben – mögen sie es ungefragt weiter tun, ich vertraue seiner Intelligenz und achte seine Bedürfnisse. Ich liebe meinen Körper, der sich in der komplexen Welt zu behaupten weiß und sich einzufügen vermag in Vertraulichkeiten, Kollektive, Beziehungen. Er ist der Beginn des Gesprächs, er ist die Verbindung zu den anderen Menschen, den Geliebten und den Erduldeten. Als Scharnier zwischen beiden dient das Bewusstsein, das „ich“ sagt und alle drei meint. Wir sind dankbar für das Erreichte und wünschen uns weitere Tage der Freuden. Für heute gönne ich mir den Rausch einer afghanischen Schönheit, die meinen Leib wärmt und entspannt, meinen Körper erregt und mein Bewusstsein träumen lässt. Das ist eine aufgeräumte Stimmung, um vor meinen Schöpfer zu treten. Wenn ich es nicht vergesse, werde ich ihn im Moment des Übergangs fragen, warum er gerade mir dieses Schicksal zugedacht habe. Konnte er sich so sicher sein, dass ich es schon hinbekommen würde? Sei’s drum, Zeit, Geld, Mühe und Ausdauer waren gut investiert.

August

Zuende geht der milde Zwischenmonat
Kastanien und Eichen schütteln sich
Die Sommerwärme im Gestein auf Vorrat
Gedenken an den Tag der früher wich

Früh morgens grüßen Dunkelheit und Kühle
Der Rasen feucht die Blätter leicht verfärbt
Im Freibad freuen Körper sich und Seele
Das Bahnenziehen schon als Kind geerbt

Im Obstkorb Beeren Feigen Aprikosen
Die Haut gebräunt das Kleid noch ärmelfrei
Die Draußenzeit verringert sich in Dosen
Das Mückenstechen ist gottlob vorbei

Die Alten zieht es in der Arbeit Mühle
Die Kleinen stolpern erstmals in die Schule

Alison

Aktivismus ist seit jeher das Metier der Jungen. Sie protestieren gegen die schale Politik, prangern ungerechte ökonomische Verhältnisse an, vernetzen sich, verfassen Pamphlete, organisieren Demos und ordnen ihr Leben analog wie digital ihren hehren Zielen unter. Doch was geschieht mit dem Idealismus, wenn seine Träger in die Jahre kommen, angestrebte Veränderungen aber ausbleiben? Das neue Buch „Spent“ der US-amerikanischen Comiczeichnerin Alison Bechdel stellt genau diese Frage am Beispiel einer älteren Frau, die wie die Autorin als Zeichnerin auf dem Land lebt und zu spätem Ruhm kommt. Ihr wachsender beruflicher Erfolg erlaubt es ihr, einen komfortablen Lebensstil zu pflegen; die quälende linke Frage, wie dies verantwortungsvoll und demütig geschehen könnte, lässt sie dabei nicht los.

Alison Bechdel wurde 1960 in eine katholische Familie geboren und wuchs im ländlichen Pennsylvania auf, beide Eltern arbeiteten als Lehrer und führten nebenbei ein Bestattungsinstitut. Nach ihrem College-Abschluss lebte sie für einige Jahre in New York City, wo sie mit dem Zeichnen von Comics begann, die in der lesbischen Subkultur spielen. Die lose Reihe „Dykes to watch out for“ wurde in einschlägigen Magazinen veröffentlicht und verschaffte Bechdel den Rang einer Kultautorin. Auf sie geht der sogenannte Bechdel-Test zurück, mit dem sich spielerisch überprüfen lässt, ob fiktionale Filme weibliche Charaktere angemessen abbilden. Das ist laut seiner Namensgeberin dann der Fall, wenn sich zwei Frauen in Hauptrollen länger miteinander unterhalten, und zwar nicht über Männer.

Im Jahr 2006 landete sie mit ihrer „Fun home“ genannten Familiengeschichte einen Überraschungserfolg auf dem allgemeinen Buchmarkt. Während in diesem Werk Bechdels vermutlich schwuler Vater im Mittelpunkt steht, geht es in „Are you my mother?“ von 2012 um die Wünsche und Träume ihrer Mutter. 2021 liefert Bechdel eine humorvolle Analyse ihrer Fitness, die sie Superkraft nennt; sie wundert sich über die Trends der Sportindustrie, die Pazifisten dazu bringt, für Boot Camps zu bezahlen und emanzipierte Frauen, an einer Stange zu tanzen. Ihr bislang jüngstes Buch „Spent“ von 2025 ist eine Mischung aus Altersfazit und der Reflexion ihrer Arbeit in einer Welt, die in einer Klimakrise steckt und in der autoritäre Tendenzen gerade in den USA bedenkliche Ausmaße annehmen. Alison Bechdel lebt mit ihrer Frau und mehreren Katzen auf einer Farm in Vermont.

In „Spent“ tauchen Figuren wieder auf, die seit Jahrzehnten zum Bechdel-Kosmos gehören. Ginger und Lois leben auch noch mit 60 Jahren in einer WG, mit ihren Partnerinnen in eigenen Wohnungen. Sparrow und Stuart sind Teil der Hausgemeinschaft, sie müssen mit dem Erwachsenwerden des eigenen Kindes sowie seinem Auszug klarkommen. Die Haare sind grauweiß geworden, die Rücken bebeugter, im Gesicht finden sich Falten und am Bauchnabel Speck. Die eigentliche Chronistin der Langzeitgruppe ist Mo, offensichtlich das Alter Ego der Zeichnerin, die sich ständig über die harten kapitalistischen Verhältnisse grämt und nach Wegen sucht, im Einklang mit der Natur und der Gesellschaft zu leben und zu konsumieren. Zur regelmäßigen Farce werden ihre politisch korrekten Selbstvorwürfe wegen ihrer unterstellten Privilegien, heimlich sehnt sich die unverdrossene Aktivistin nach einem Lebensstil, der über den einer Dauerstudentin hinausgeht.

Typisch für die Bechdel-Comics ist ihr Eingebettetsein in die jeweiligen politischen und sozialen Debatten. Präsident Clintons Affaire mit der Praktikantin Monica Lewinsky wird ebenso thematisiert wie die Anschläge auf das World Trade Center, Michael Jackson und George W. Bush haben ebenfalls ihre Aufritte wie das Covid-Virus, ChatGPT und Black Lives Matter. Die Gefahr des übergroßen Versandhändlers Amazon für den lokalen Buchladen wird lebhaft beschworen, die grotesken theoretischen Verrenkungen der Queer Studies werden beinahe zärtlich parodiert. Drag King Shows werden gefeiert, Feministinnen diskutieren kritisch über die Anwesenheit von Transfrauen in Frauenräumen, zwei Lesben ziehen einen kleinen Jungen groß, eine vegetarische Ernährung ist ebenso selbstverständlich wie der Einkauf im Bioladen, Training im Yoga-Studio und das Fahren eines E-Autos, Therapiesitzungen und polyamouröse Affairen. So wird die Reihe „Dykes to watch out for“ auch zum Protokoll der linksliberalen Mittelklasse der US-Ostküste.

Dabei ist Bechdels Stärke ganz klar das Zeichnen. Ihre frühen Skizzen aus den 1980er Jahren haben noch etwas übermäßig Spitzes und Zweidimensionales, Anfang der 1990er Jahre hat sie ihren treffsicheren Stil gefunden, die Figuren mit den Kugelaugen werden sowohl von der Darstellung als auch vom Charakter runder und komplexer, die kolorierten Szenen haben die Anmutung von Filmfotos. Bei ihren sogenannten Novels, mit denen sie sich dem literarischen Genre der Memoiren zuwendet, verirrt sich Bechdel allerdings in intellektuellen Labyrinthen. Die Geschichten haben durchaus ihren Spannungsbogen und tragen durch das ganze Buch, allerdings kommt der ideologische Überbau mit Virginia Woolf, Donald Woods Winnicott und Karl Marx reichlich bemüht daher. Bitter in „Spent“ ist der Preis des wachsenden ökonomischen Erfolgs der Autorin und Hauptfigur, der in ihrem Freundeskreis für Gefühle der Missgunst und des Neides sorgt. Der Aufstieg der Nischenautorin zum Liebling der New York Times wird ihr zur Belastungsprobe ihres Milieus.

Die ewige Frage der Memoirenliteratur ist jene nach dem Anteil der Fiktion an den arrangierten Fakten. Seit Sigmund Freud und Marcel Proust ist bekannt, wie selektiv sich die Erinnernde über die Vergangenheit hermacht und diese entlang eigener offener wie uneingestandener Sehnsüchte nacherzählt – Objektivität ist hierbei nicht zu erwarten, wie es auch der inflationär zitierte Begriff der Autofiktion nahelegt. Bechdel erzählt einen Teil ihrer Lebensgeschichte für die anderen und für sich selbst; was dabei verkürzt, übertrieben, verschwunden oder schlicht erfunden ist, weiß nur sie. Für die Leserin ist die Frage zweitrangig, solange die Geschichte stimmig und witzig erzählt wird. Das gelingt Bechdel mit ihrer Tuschefeder eindrucksvoll, die Worte in den Sprechblasen der Zeichnungen voller Tiefenschärfe kommen daher wie die Untertitel eines fremdsprachigen Films.

Was Alison Bechdel für Neuengland ist, ist Ralf König für die Bundesrepublik. Boomer wie sie, ebenfalls Jahrgang 1960, begann auch König als teilnehmender Beobachter der Szene, die Knollennasen seiner schwulen Protagonisten wurden legendär. Auch König reüssierte in der breiten Kultur und wurde im Feuilleton gelobt, auch seine Novellen wie „Der bewegte Mann“ wurden erfolgreich für das Kino adaptiert. Das homosexuelle Begehren wird bei Bechdel wie König so richtig wie beiläufig inszeniert, es muss nicht begründet oder gar gerechtfertigt werden. Dass eine lesbische Zeichnerin und ein schwuler Zeichner schließlich bei großen Publikumsverlagen veröffentlichen und vom explizit Sexuellen ihrer Geschichten kein Jota zurücknehmen, ist ein schönes Indiz sozialer Gewöhnung. Möge das für die kommende Generation der Schwulen, Lesben und Transidenten ebenfalls gelten, für die Aktivisten wie für die Chronisten.

Площадка

Die Kenntnis von den menschlichen Sinnen – ihrer Funktions- und Wirkungsbereiche – ist eine wichtige Voraussetzung für die Gestaltung und Dimensionierung von Außenraum und Gebäudeanordnungen jeglicher Art. – Jan Gehl, Leben zwischen Häusern

Die Sowjetunion ist seit bald 35 Jahren Geschichte, an ihre Stelle sind 15 unabhängige Republiken getreten, von der Baltischen See über das Kaspische Meer bis zur zentralasiatischen Steppe und den Eiswüsten Sibiriens. Bei allen topographischen, klimatischen und kulturellen Unterschieden der jeweiligen Regionen springt eine harsche Uniformität ins Auge, die in erster Linie einem zentral von Moskau gesteuerten Entwerfen und Planen zuzuschreiben ist. Auch in der UdSSR galt es in den Nachkriegsjahren, rasch bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, zumal der Standard der Wohnungen und Häuser der 1930er Jahre weit hinter denen des westlichen Europas zurückfiel. Bis heute stilbildend sind die Chruschtschowka, in den 1960er und 70er Jahren hochgezogene vielstöckige Wohnriegel, die die werktätige Bevölkerung mit einem Mindestmaß an Komfort und Sicherheit versorgen sollten.

Diese Behausungen, die die Mehrzahl der Genossen der Sowjetrepubliken mit einem Dach über dem Kopf versahen, kommen langsam an das Ende ihres Lebenszyklus. Daher nimmt es nicht wunder, dass die Debatte um ihr Erbe bereits geführt wird. Denkmalschutz und Stadtplanung nehmen sich mit völlig unterschiedlichen Motiven ihrer an. Die Abkehr von jeglichem Dekor, vom KP-Chef Nikita Chruschtschow dogmatisch gefordert, hat gewaltige Monosiedlungen entstehen lassen, die das menschliche Maß bei weitem übersteigen. Dessen ungeachtet wird die steinerne Hinterlassenschaft der UdSSR fotografiert, kategorisiert und analysiert. Die Beschäftigung mit dieser Materie hat den Ruch des Verwegenen: Die erhaltenen Panelki wirken so einschüchternd, dass es einem Coup gleichkommt, sie als Objekte einer Ästhetik des Grauens zu behandeln. Die Grafikagentur Zupagrafika hat sich große Verdienste bei diesem Prozess des Bewahrens des Monströsen erworben.

David Navarro und Martyna Sobecka haben Zupagrafika 2012 im polnischen Poznan gegründet. Sie dokumentieren das architektonische und urbanistische Erbe der Sowjetunion und der anderen Länder des Warschauer Vertrages, das inzwischen alt genug ist, um der Historisierung anheimzufallen. Zupagrafika hat Bücher über den Brutalismus in Polen, Italien und England publiziert, über die Monotowns in den Weiten Russlands und immer wieder über Panelki, also in der Fabrik vorgefertigte Wände und Decken, die auf der Baustelle zu ganzen Häusern zusammengesteckt wurden. Ihr Buch „Soviet Playgrounds“ von 2022 versammelt Fotos von Spielgeräten, die sich zwischen den anonymen Hochhausblocks im ganzen Sojus finden, von Riga und Vilnius über Minsk, Magnitogorsk und Dnipro bis nach Taschkent, Duschanbe und Baikonur.

Das, was im Titel des Buches etwas hochnäsig „Spielplatz“ genannt wird, umfasst meist nicht mehr als ein Gerüst, eine Schaukel oder eine Rutsche, zufällig und lieblos zwischen die Blöcke gesetzt wie andernorts eine Wäschespinne oder ein Teppichklopfer. Von einem Platz mit Aufenthaltsqualität, der zwischen Wegen und Häusern vermittelt und der auch der Versammlung der Menschen dient, hier der spielenden Kinder, kann wahrlich nicht die Rede sein. Eine schützende Begrenzung der Spielflächen sucht man ebenso vergebens wie Sitzbänke für die beaufsichtigenden Eltern. Diese Anlagen waren bei der Errichtung der Siedlungen nicht eingeplant, sie wurden erst Jahre später eher verlegen ergänzt, um sich auch der jüngsten Bewohner der Panelki anzunehmen.

Als kindlich an den abgebildeten Spielgeräten kann die heitere Farbgebung mit den kräftigen Rot, Grün, Gelb und Blau gelten (ironischerweise auch die Signalfarben des Google-Logos), für ihre figürlichen Motive lässt sich das bereits weniger sagen. Auf verspieltem Wege sollen die Kinder an das Leben der erwachsenen Sowjetmenschen herangeführt werden, wenn sie etwa in einem angedeuteten Autonachbau sitzen. Besonders augenfällig sind die Raketen, die sich in allen ehemaligen Sowjetrepubliken als Spielgeräte finden – dazu reicht ein aufrechter, von innen erklimmbarer Zylinder, dessen Spitze verjüngend zuläuft, wie bei einer Patrone. Im Kalten Krieg berauschte sich die Führung der UdSSR an den offenkundigen Erfolgen der sowjetischen Raumfahrt; Juri Gagarin, 1961 erster Mensch im All, grüßt als Mosaik von Hauswänden, als Statue im Park und als Kosmonaut in Gestalt der kleinen Nikitas, Aljoschas und Wladimirs auf dem Площадка.

Auch andere primär militärisch nutzbare Artefakte werden als Spielgeräte aufgestellt. Neben der allgewärtigen Rakete als Symbol der Beherrschung des Orbits kommen Flugzeug- und Hubschrauberattrappen zum Einsatz, ebenso erhöhte Wachtürme, die für die Kontrolle von Grenzen, Gefängnissen und weiteren Sperrgebieten unerlässlich sind. Ein Gymnasium, das sich also an bereits halbwüchsige Sekundaner wendet, will den militärischen Aspekt seiner Spiel- und Sportausstattung gar nicht verleugnen. Ein kreisrundes Gestänge in über zwei Metern Höhe lädt die Schüler dazu ein, sich in Schlaufen durch das Rund zu hangeln – eine Drillübung, wie sie jeder sadistische Ausbilder für seine zu schindenden Rekruten im Repertoire hat. An diesem Gerät wird die Nähe zwischen Spiel und Sport ersichtlich, und ebenso die Abkunft des Trainings vom Soldatischen.

Die abgebildeten Spielgeräte sind ebenso in die Jahre gekommen wie die sie umzingelnden Hochhäuser. Rost frisst sich durch die verblassten Farben, in einer Rutsche sammeln sich Laub, Wasser und Sand, bei einer hölzernen Wippe fehlt an einem Ende der Haltegriff. Geradezu rührend die Schlichtheit mancher Konstruktion: Zwei Stahlrohre werden zu Halbkreisen gebogen, Sprossen verbinden und stützen sie, fertig ist die Kletterleiter. Andere Stahlrohre werden im rechten Winkel verschweißt, mehrere Kreise mit unterschiedlichen Durchmessern werden eingepasst, et voilà, eine Torwand steht zum Üben von Elfmetern bereit. Regelrecht komplex und multidimensional hingegen die übergroße Figur des Gulliver: Der Sagenheld kauert auf dem Boden, ist mit dem Aufrichten beschäftigt, über seine Arme, seine Brust und seine Schienbeine verlaufen lange Rutschen, die besonders imposant für Liliputaner wirken müssen. Ein Kettenkarussell vermittelt einen ersten Eindruck maschineller Geschwindigkeit; hegende Hausmodelle, die zum Verstecken einladen, tauchen jedoch im ganzen Band nicht auf.

Doch beliefern die Aufnahmen des besprochenen Bandes mehr als nur die Vergangenheit. Ein Bild aus einem Vorort von Kiew, aufgenommen Ende Februar 2022, zeigt eine Wohnscheibe nach einem Beschuss mit russischer Artillerie. Fensterglas ist zersplittert, die Fassade ist geschwärzt von der Explosion, Rahmen hängen in den Angeln, Kacheln sind abgeplatzt, Trümmer liegen verstreut auf dem Boden. Dass vor dem Haus eine kleine Rutsche in einem schreienden Mint steht, obendrein unversehrt, fällt erst beim längeren Betrachten des Bildes auf. Unwillkürlich drängen sich Szenen aus Kriegsgebieten auf, wo Kinder in Ruinen herumtollen und auf dem Dach eines ausgebrannten Panzers posieren. Wo endet das zweckfreie Spiel der Ausgelassenheit, wo beginnt die erste Lektion beim Aufwachsen in einer Welt voller Überraschungen und Gefahren?

Das Groteske des vorliegenden Bandes ist der Umstand, dass auf den dargestellten Spielplätzen kaum Kinder zu sehen sind. Viele Aufnahmen sind im schneereichen Winter entstanden, sodass Fußspuren zwischen den Geräten erkennbar werden. Ihr weitgehendes Fehlen lässt vermuten, dass die Kinder die ihnen zugedachten Zonen und Gestänge eher verschmähen als nutzen. Auf einer Szene in Toljatti ist immerhin ein Junge zu erkennen, der im Sitz einer Schaukel hängt, sich mit den Beinen Schwung verschafft und dabei seine volle Aufmerksamkeit einem kleinen Bildschirm zwischen den Händen zuwendet. Eine schlimmere Rüge für die Ingenieure dieser kindlichen Refugien ist kaum denkbar. Vermutlich ist der Grund für die Leere auf dem Площадка zwischen den hohen Häusern in deren Maßlosigkeit zu suchen. Erwachsene kennen das Gefühl der Beklommenheit zwischen den blinden Wohnriegeln, auf denen das Auge vergeblich nach Halt sucht – wie soll es erst bei Kindern sein, deren Körper, Gehirne und Sinne stetig wachsen und mit dem Verarbeiten der Reize eines Tages vollauf beschäftigt sind?

Die Trabantenstädte des Sojus folgten dem seinerzeit dominanten Konzept der Funktionstrennung. Sie dienten primär der Erholung und dem Schlaf, zum Arbeiten pendelte man mit der Tram oder dem Auto in die Innenstadt oder in die Fabrik. Eine Infrastruktur der Freizeit, der medizinischen Versorgung, der schulischen Bildung und des Handels wurde anfangs nicht mitgedacht; sie wurde ähnlich wie die Spielplätze nachträglich angestückelt. Damit ist das Deprimierende der großen Siedlungen trotz ihres relativen Komforts mit Fernwärme, Bädern, fließend warmem Wasser und Müllschlucker benannt. Der unausweichliche Beton versorgt die Leiber der Menschen mit Wärme und Schutz, lässt allerdings ihre Seelen und Sinne veröden. Gerade am Aspekt der Spielplätze zeigt sich bei der Bestandsaufnahme der Panelki, dass sich Häuser und Quartiere für Menschen gerade so nicht bauen lassen. Die Sanierung und streckenweise Umwidmung der Plattenbauten stellen die städtebaulichen Aufgaben der Jetztzeit dar – mögen die abschreckenden Beispiele der Vergangenheit dabei ihre lindernde Wirkung entfalten.