Sharai

Kerstin stieg aus dem Bus aus und strebte Richtung Grünanlagen, die auf dem Weg zu ihrer Wohnung lagen. Als sie um die Ecke bog, lag der Motorenlärm der Hauptstraße schlagartig weit weg, ihre latente Körperspannung löste sich prompt. Für heute wollte sie nur noch nach Hause, der Tag im Büro war lang und schlauchend gewesen, Einkäufe musste sie keine mehr erledigen. Sie überquerte die kleine Straße mit den sichtbaren Rissen im Asphalt nach dem Beendigen der Bauarbeiten und schob das Törchen zum Park auf, ein junger Mann auf einem Rennrad war neben ihr der einzige Besucher. Sie setzte sich auf die Bank eines Kinderspielplatzes, schaute auf den beigefarbenen Sand mit den abgefallenen Blättern der nahen Platane und streckte ihre Beine weit von sich.

Sie hatte Lust auf eine Feierabendzigarette, die sie sich rituell gönnte, als Zeichen des Übergangs vom Tag zur Nacht, beherrschte sich aber, sie konnte auch gleich zuhause auf den Balkon gehen. Auch wenn hier keine spielenden Kinder mehr zu sehen waren, war dieser Ort zum Rauchen nicht geeignet. Zwar trafen sich hier nach Einbruch der Dunkelheit Jugendliche zum Knutschen und zum Kiffen, sie waren aber so diszipliniert, hier keine Reste von Joints oder Kippen zu hinterlassen. Der Sand war einfach nur hellbraun und klumpig, Spuren kleiner Schuhe durchzogen ihn. Kerstin öffnete die Knöpfe ihres Übergangsmantels, der Himmel war bedeckt, die Luft war warm und drückend, als stünde der Ausbruch eines Gewitters bevor. Die kleine Schaukel eines nahen Gerüstes wurde vom Wind hin und her geschubst, als sei gerade jemand abgesprungen und als schwinge sie noch aus.

Kerstin kramte in ihrer Tasche nach der Zeitung und entfaltete sie mit geübten Griffen. Nach Stunden des Arbeitens am Monitor war das Lesen einer gedruckten Zeitung Labsal für ihre Augen. Sie behielt gedruckte Texte länger im Gedächtnis und las diese meist bis zum Ende, am Rechner stieg sie viel schneller aus, wenn ihr die Richtung des Artikels nicht behagte. Der Wind bauschte das Papier, das sie straffte, um weiter lesen zu können. Fasziniert folgte sie der Beschreibung eines Opernabends in Zürich; sie hatte das Stück vor ein paar Wochen am hiesigen Opernhaus gesehen und genoss nun die erneute Aufführung vor ihrem inneren Auge, so gut war die Rezension. Unvermittelt fing sie an, die prägenden Motive der Oper mitzusummen, ihr Fuß wippte im Takt, die Mokassins hingen nur noch an den Zehen.

Nach dem imaginären Schlussapplaus ließ sie die Zeitung auf den Schoß sinken, ihr Blick streifte über das eingefasste sandene Viereck. Ein Eichhörnchen hüpfte hektisch über den Boden, kurz innehaltend und den ruckenden Kopf gen Himmel gehoben; es schien das nahende Unwetter zu spüren und suchte bereits nach Schutz. Mit einem Satz sprang es auf den Stamm einer Platane und hechtete in einer Spirale Richtung Krone, Kerstin kurz einen prüfenden Blick zuwerfend. Sie faltete die Zeitung zusammen und steckte sie in die Tasche, zum Gehen bereit, als sie ein dumpfes Poltern vernahm. Es schien aus einem hölzernen Spielhaus am Rande des Klettergestänges zu kommen. In seinem Bullauge erspähte Kerstin einen Kinderkopf, kurz darauf tropfte ein kleiner Leib auf den Sand und richtete sich auf. Das Kind stapfte schwankend durch den Sand in ihre Richtung. Schwarze Augen, lange wellige schwarze Haare, vielleicht vier oder fünf Jahre alt, etwa einen Meter groß.

Das Mädchen kletterte aus der Sandgrube und stand direkt vor ihr, sie mit den großen dunklen Augen magnetisch fixierend. Unwillkürlich sah Kerstin sich um, schweifte nach einer Mutter, einem Vater, einem älteren Geschwister, aber hier war niemand außer ihnen beiden, den sich verdunkelnden Wolken und dem anschwellenden Wind. Sie erwiderte den Blick der Kleinen und verzog die Lippen zu einem Lächeln. Das Mädchen folgte ihren Augen, keine Miene dabei verziehend. Sie trug ein dünnes Jäckchen über dem leichten Pullover, die Beine mit pinken Leggings bekleidet, an den Füßchen flache Turnschuhe – normale Kinderkleidung, soweit Kerstin das einschätzen konnte, passend für die Frühlingszeit. Keine Tasche, kein Ranzen, keine Tüte, nichts, worin etwa Stifte, Proviantbüchse, Hefte oder Trinkflasche sein könnten. In den Taschen ihrer Hose und auch der Jacke zeichnete sich nichts ab, was nach Telefon oder Schlüssel aussah. Auch eine Uhr trug sie nicht, keinen Brustbeutel, keine Kette, kein Portemonnaie.

Kerstin hielt ihr Lächeln und fragte: „Wo ist denn Deine Mama?“ Das Mädchen gab keine Antwort und musterte Kerstin weiter, ihr Gesicht war dabei unbeweglich, es wirkte ernst und still. „Kannst Du mich verstehen?“, fragte Kerstin, bereits mit einem unsicheren Unterton in der Stimme. Wieder antwortete die Kleine nicht, stattdessen erklomm sie die Bank und saß nun neben Kerstin, die Füße schlenkerten weit oberhalb des Bodens, der Kopf war nun schräg nach oben gewandt, als wollte sie Kerstin keinesfalls aus ihrem Blick entlassen. Kerstin fragte die Kleine auf Englisch und Französisch, keine Reaktion. Sie versuchte es auf Russisch und auf Spanisch, wiederum vergeblich. Türkisch und Arabisch konnte sie in groben Brocken verstehen, zum Sprechen reichte es nicht. Sie sah der Kleinen ins Gesicht und sagte schlicht: „Sharai“, dabei die Stimme fragend nach oben ziehend. Die Kleine drehte den Kopf schräg und öffnete leicht den Mund, weiße Zähnchen perlten.

Der Wind griff sich die Äste der Platanen, das Laub rauschte, es würde gleich anfangen, zu donnern und zu regnen. Erneut wanderte Kerstins Blick durch den Park, nicht einmal Spaziergänger mit ihren Hunden waren noch unterwegs. Was machte das Mädchen hier, wo kam sie her, wartete sie auf jemanden? Was auch immer, sie schien fest entschlossen, Kerstin nicht ohne sie weggehen zu lassen. Soll ich die Polizei rufen, fragte sich Kerstin. Die Beamten werden sie mit auf die Wache nehmen und mit dem Jugendamt telefonieren, damit die Kleine die Nacht unterkommen kann. Vielleicht ist sie ausgerissen und die Eltern suchen sie bereits verzweifelt. Sie spürte die weiche Hand des Mädchens auf ihrem Schenkel, erstmals lächelte sie, die großen Augen blickten sanft und flehend zugleich. Kerstin musste sich entscheiden, angesichts des drohenden Gewitters konnten sie hier nicht bleiben.

Sie stand auf und schloss ihren Mantel. Sofort sprang die Kleine von der Bank und fasste Kerstins Hosenbein. „Ist ja gut, Sharai“, sagte Kerstin instinktiv, als spräche sie zu einem Tier, „wir gehen zu mir, ich wohne gleich um die Ecke.“ Kerstin schulterte ihre Tasche und nahm das Mädchen an die andere Seite. Im Gehen hörte sie den fliegenden Atem der Kleinen, die mit ihren Schrittchen kaum mitkam. Ihre Finger hielten Kerstins so fest, wie es irgend ging. Kerstin blieb stehen, ging in die Hocke und blickte dem Mädchen offen ins Gesicht. „Wir gehen zu mir und essen etwas. Du kannst etwas trinken und Dir die Hände waschen. Und dann sehen wir weiter und kümmern uns um Deine Eltern, Sharai. Okay?“ Das Mädchen blieb stumm, nichts deutete darauf hin, dass sie die Worte und ihren Sinn verstanden hatte. Aber offenbar spürte sie die Wärme und die Sorge, die in den Silben mitschwangen. Als wollte sie Kerstin vertrauen.

Artig warteten sie, bis die Ampel auf Grün umsprang, bevor sie die Straße überquerten. Im Treppenhaus begrüßte sie eine Nachbarin, die sie noch nie mit einem kleinen Kind an der Hand gesehen hatte. Die Stufen waren für die kurzen Beine besonders hoch, das Mädchen schien schlagartig erschöpft zu sein. Kerstin beugte sich hinab und nahm sie auf den Arm, sofort schmiegte sie den Kopf an ihre Schulter, sie wog vielleicht 15 Kilogramm. Vor ihrer Wohnungstür ließ sie das Mädchen auf den Boden herab und schloss auf, öffnete die Tür und sagte: „Willkommen, Sharai.“ Sie hängte ihren Mantel an die Garderobe und half der Kleinen, ihre Jacke auszuziehen. Kein Ausweis in den Taschen, keine Karte, kein Zettel mit einem Namen oder einer Telefonnummer. Sie zog ihr die Schuhe aus und stülpte ihr Socken über die Füße, noch immer viel zu groß. Draußen krachte es vernehmlich, das drohende Gewitter brach los. Kerstin machte Licht.

Sie führte die Kleine ins Bad. Sie hatte keine Ahnung, ob sie schon allein die Toilette benutzen konnte, das Waschbecken war wohl zu hoch für sie. Als sie Anstalten machte, sie allein zu lassen, protestierte sie nicht; Kerstin schloss die Tür von außen und setzte sich in die Küche. Als sie die Spülung rauschen hörte, lächelte sie innerlich; gut, die Kleine ist offenbar passabel entwickelt, wenn ich nur wüsste, ob sie mich versteht. Sie klopfte an die Badezimmertür und trat nach einem Moment ein; das Mädchen stand verloren vor dem hohen Waschbecken. „Gut, Sharai, ich hebe Dich hoch, dann kannst Du Dir die Hände waschen.“ Sie fasste der Kleinen unter die Achseln, was sie sich gefallen ließ; nun konnte sie den Wasserhahn aufdrehen und die Seife in die Hände nehmen. Das Handtuch an der Wand konnte sie bequem im Stehen erreichen.

Kerstin ging in die Küche und setzte einen Topf mit Milch auf, die Kleine folgte ihr lautlos und kauerte sich auf einen Küchenstuhl, auf den Kerstin vorher ein dickes Kissen gelegt hatte. Sie rührte Kakao in die kochende Milch, schnitt etwas Weißbrot ab und stellte es mit Honig, Butter, Käse und einem Becher Joghurt auf den Tisch. Sie goss den Kakao in zwei Tassen, füllte zwei Gläser mit Wasser und schnitt Gurken, Tomaten und Oliven zu einem Salat in eine Schüssel. Die Kleine folgte ihren Bewegungen mit den Augen, die sie wieder offen halten konnte, wahrscheinlich hielt sie der Hunger wach. Kerstin wusste nicht, ob die Kleine schon mit Kuchengabel und Teelöffel umgehen konnte, auch konnte sie nicht abschätzen, wieviel ein Mädchen in dem Alter essen würde. Egal, wenn sie noch mehr wollte, würde sie noch mehr Brot schneiden, auch gab es noch Bananen, Äpfel und Mangos im Obstkorb. Es war derweil dunkel geworden, an der Fensterscheibe liefen die Wassertropfen in Schlieren herab.

Die Kleine aß mit großem Appetit und mit merkwürdigem Ernst, die gereichten Speisen schienen ihr zu schmecken, auch konnte sie mit dem Besteck leidlich umgehen. Sie tunkte den Teelöffel in das Honigglas und ließ einen Klecks in den Kakao rinnen; mit beiden Händchen umfasste sie die Tasse und trank die warme, mit braunem Pulver versetzte Milch mit schmatzenden Schlucken. Kerstin kaute inzwischen auf ihrem Salat und beobachtete ihren kleinen Gast. Wo kam sie her, wo waren ihre Eltern, warum war sie so spät allein auf dem Spielplatz, war sie gesund? Auf diese Fragen hatte sie keine Antwort, doch schien es dem Mädchen jetzt in ihrer Wohnung gut zu gehen. „Sollen wir Deine Eltern anrufen, Sharai?“, fragte sie. Wiederum antwortete sie nicht, doch der Klang des Namens Sharai schien ihr vertraut, rührte etwas in ihr an.

Die Küchenuhr zeigte gleich acht Uhr. Was sprach dagegen, das Mädchen heute Nacht bei ihr schlafen zu lassen? Kerstin nahm ihr Telefon und schaute auf Twitter, Facebook und dem Portal der Stadt nach, keine Nachricht der Polizei, dass ein kleines Mädchen vermisst wurde. Als sie wieder hochschaute, hatte das Mädchen den Kopf auf den Tisch gelegt, gestützt durch die Unterarme. Kurzerhand breitete Kerstin auf der Couch im Wohnzimmer ein Laken aus und holte zwei warme Wolldecken aus dem Wäscheschrank. „Sharai, Du bist wohl müde. Möchtest Du hier schlafen?“ Als Antwort bekam sie ein Lächeln, das wohl ein Ja sein sollte. Ohne Umschweife ging die Kleine ins Wohnzimmer, rollte sich auf der Couch zusammen und fiel sofort in einen tiefen Schlaf, nicht einmal ausgezogen hatte sie sich. Kerstin deckte sie zu, öffnete leise die Balkontür und ging mit einer Zigarette nach draußen. Sie hatte schon gehört, dass Katzen manchmal Menschen zulaufen, aber Kinder? Doch es schien ihr vertretbar, sie eine Nacht bei sich zu behalten, morgen früh würden sie dann weitersehen. Sie atmete den Rauch aus und blickte in das Zucken der Blitze, der Donner grollte von ganz nah.

CI

Ein Jahr freie Fahrt
Kontemplation auf Schienen
Distinktionsgewinn
Der Chic der kleinen Schwarzen
Als sei Dein der ICE

Alvar

Die Architektur ist eine Sozialwissenschaft. Sie generiert Schutz, Struktur und Schmuck des menschlichen Lebens und kann in ihrem Einfluss auf die Funktion der Gesellschaft nicht überschätzt werden. – Andrea Warnekros

Alvar Aalto wurde 1898 in Kuortane geboren, seinerzeit Teil des zum Russischen Reich gehörenden Großfürstentums Finnland, er wuchs im mittelfinnischen Jyväskylä in einer liberal denkenden Familie auf. Zuhause wurde Finnisch wie Schwedisch gesprochen, Alvar lernte auch passabel Deutsch. Nach seinem Abitur 1916 zog er nach Helsinki und begann an der dortigen Technischen Hochschule ein Studium der Architektur. 1918 unterbrach er während des I. Weltkrieges seine Ausbildung und kämpfte in den Reihen der konservativen „Weißen“. Nach dem Diplomabschluss seines Studiums ging er wieder nach Jyväskylä und gründete dort sein erstes Architekturbüro. 1924 heiratete er die Architektin Aino Marsio, im gleichen Jahr vollendete er das Haus der Arbeiter in Jyväskylä. 1928 unternahm das Ehepaar Aalto eine Studienreise nach Mitteleuropa, Alvar realisierte im selben Jahr das Redaktionsgebäude der Zeitung Turun Sanomat in der alten finnischen Hauptstadt Turku, das ihn schlagartig zum führenden Architekten seines Landes machte und ihm weitere Aufträge verschaffte.

1935, mittlerweile in Helsinki lebend, gründete Alvar Aalto gemeinsam mit seiner Frau und einem befreundeten Paar die bis heute existierende Firma Artek, die Möbel, Lampen, Gläser und weitere Einrichtungsgegenstände fertigt und vertreibt. 1938 baute Aalto für ein befreundetes Paar die Villa Mairea, die seinen internationalen Ruhm festigte. Während des II. Weltkriegs lebte die Familie zeitweilig in den USA, Alvar nahm eine Professur am MIT an. 1949, dem Jahr des Todes Ainos, baute Alvar den Hörsaal der Technischen Universität in Espoo. 1952, dem Jahr der Heirat mit der Architektin Elissa Mäkiniemi, schuf Alvar das Haus der Kultur in Helsinki. In den 1950er Jahren kreierte er zudem ein Etagenwohnhaus im Berliner Hansaviertel, entwarf ein Etagenwohnaus in Bremen und gewann den Wettbewerb um das Theater Essen. 1963 wurde Aalto zum Vorsitzenden der Finnischen Akademie ernannt, 1971 wurde ein Alvar Aalto Museum in Jyväskylä eröffnet, im selben Jahr schließlich wurde seine Finlandia-Halle in Helsinki eingeweiht. Im Jahr 1976 starb Alvar Aalto in der finnischen Hauptstadt, wo er auch begraben wurde.

Alvar Aalto hat in den über 50 Jahren seines architektonischen Schaffens die ganze Palette an Gebäuden abgebildet. Er baute großzügig dimensionierte Villen und Etagenhäuser im sozialen Wohnungsbau, er entwarf Kirchen und Bibliotheken, Verwaltungsgebäude und Sanatorien, Konzerthäuser und Fabrikanlagen. Dabei ließ er sich stets von einer idealistischen Einstellung leiten, nach der gute Wohnverhältnisse und Häuser für alle zugänglich sein sollten, unabhängig von den jeweiligen finanziellen und sozialen Bedingungen. Diese Haltung reflektiert die tradierten skandinavischen Vorstellungen einer tendenziell egalitären Gesellschaft, deren Mitglieder ungeachtet sozialer Hierarchien wohlwollend aufeinander achten und die niemanden im Wettbewerb zurücklassen. Sein Metier sah er dabei in einer Vorbildrolle: „Die Architektur kann die Welt nicht retten, aber sie kann als gutes Beispiel vorangehen.“ Nicht umsonst nannte er jedes Gebäude, das er plante und realisierte, die Chance auf ein irdisches Paradies.

Aaltos Werk ist durchgehend von der Unberührtheit und grandiosen Ruhe der finnischen Landschaft inspiriert, von den endlosen Wäldern, durch die unablässig Rentiere streifen und die bis in die Städte reichen, vom allgegenwärtigen, manchmal harten Licht des Nordens, vom Wasser des umschließenden Meeres und der tausend Seen auf dem Festland. Dieser Einfluss blieb zeitlebens bestehen, auch wenn Aalto den Austausch mit den europäischen, amerikanischen und japanischen Architekten und Designern seiner Generation bewusst suchte und sich modernen Tendenzen nicht verschloss. Anders als viele vom Bauhaus begeisterte Gestalter der 1920er und 30er Jahre nahm er jedoch bewusst Abstand vom Material Stahl bei der Konzeption von Möbeln; anders als etwa der legendäre Breuer-Sessel mit seinem kantigen Stahlgestänge und seinen Lederspannen kommt der nicht minder legendäre Aalto-Hocker mit solidem Holz aus, lediglich zum Befestigen der Sitzfläche kommt Metall in Form von Schrauben zum Einsatz.

Beim Bau der Villa Mairea konnte Aalto seiner Kreativität freien Lauf lassen und musste weder auf räumliche noch finanzielle Grenzen achten – eine tückische Aufgabe für einen Architekten, kann sie doch in ordinärer Schwelgerei enden. Ganz anders das Resultat Mairea an der finnischen Westküste mit Blick nach Schweden: Natürlich liegt das Anwesen auf einem großen Grundstück inmitten eines Kiefernwaldes solitär und abgeschieden, das gilt aber im dünn besiedelten Finnland für praktisch jedes Sommerhaus am See. Die Villa Mairea weist einen L-förmigen Grundriss auf, die Arbeits- und Gesellschaftsräume liegen im Parterre, private Wohn- und Schlafräume im ersten Stock. Die Fenster- und Türfassungen sind mit dem Holz des umgebenden Waldes eingefasst, die Fassade präsentiert sich in unschuldigem Weiß. Die wandhohen Fenster holen den Garten und den Wald eher ins Innere, als dass sie dieses von jenen abgrenzten. Holzvertäfelte Decken, Treppenstufen und Geländer ebenfalls aus Holz, fasernumhüllte Stützen und steinerne Platten für den Fußboden leiten die Natur diskret ins Haus. Schwimmbecken und Sauna im rückwärtigen Bereich des Grundstückes stellen eine Reminiszenz an die klassische finnische Baukultur dar.

Auch in seinem Tuberkulosekrankenhaus in Paimio an der finnischen Westküste mit ihren Schärengärten lässt sich Aaltos doppelter Zugang aus organischem und funktionalem Bauen ablesen. Das Anfang der 1930er Jahre in Betrieb genommene Sanatorium verfügte seinerzeit mit dem Liegehallenflügel über die größte in einem Stück gegossene Betonkonstruktion Finnlands. Diese Konstruktion wird von Aalto nicht versteckt, sondern als Teil des Dekors betrachtet, ohne in die entsetzlichen Sünden des späteren Brutalismus zu verfallen. Alvar arrangierte im Grundriss die einzelnen Gebäude des Sanatoriums in unrechten Winkeln zueinander, rundete die Gebäudeecken ab und schuf offene Balkone und eine transparente Liegehalle. Er gestaltete gemeinsam mit Aino Sitzmöbel für die Aufenthaltsräume, ließ die Treppenhäuser in warmen sonnigen Farben streichen und machte auch nicht vor der Zurichtung der Spucknäpfe auf den Patientenzimmern Halt. Auch dieses Haus des kollektiven wie passageren Wohnens korrespondiert wie die Villa Mairea mit der es umgebenden Natur, die frische Luft des nahen Waldes ist Teil der Anlage zur Gesundung der Lungenkranken.

Die Stadt Essen im Ruhrgebiet wurde im II. Weltkrieg schwer getroffen und in der Wiederaufbauphase der 1950er Jahre noch schlimmer verwüstet. Das Zentrum ist heute ein Unort der autogerechten Stadt, mit Asphaltschneisen, Bürotürmen und Bahnhof, bar jeder Aufenthaltsqualität. Inmitten dieser urbanen Brache liegt das Aalto-Musiktheater, dessen Wettbewerb Alvar schon 1959 gewonnen hatte, das aber erst 12 Jahre nach seinem Tod von seiner Frau Elissa Mäkiniemi und dem deutschen Architekten Harald Deilmann vollendet wurde. Das Haus ist eingebettet in die Wiese eines städtischen Parks, immerhin ein leises Echo finnischer Wälder. Von außen sieht es unspektakulär aus, wie ein schroffer Felsen im Meer, immerhin ist es kein schamloser Phallus wie die gläsernen Firmenzentralen in seiner Rufweite. Die helle granitverkleidete Fassade ist leicht gebogen, gleiches gilt für das Regendach im Eingangsbereich und für die Griffe zum Öffnen der Portale. Seine ganze Pracht offenbart sich allerdings erst im Inneren.

Der Bau, der für Opernaufführungen optimiert ist, fasst im Parkett und auf den Rängen 1.125 Plätze. Die Sitzreihen sind geschwungen, ihre asymmetrische Aufteilung im Auditorium zitiert das antike Theater von Delphi. Im Foyer und den weitläufigen Treppenhäusern kommt die Besucherin aus dem Staunen nicht heraus, so viele Nuancen an Weiß gibt es hier zu sehen. Das Blau des Vorhangs und der Sitzpolster (mit reichlich Beinfreiheit über dem beigen Boden) ergibt hiermit die beiden Farben der finnischen Flagge, auch dies eine Hommage an den Schöpfer. Ähnlich wie in der Finlandia-Halle in Helsinki entsteht unweigerlich der Eindruck einer Kathedrale der Musik, eines heiligen Raumes inmitten des Profanen des Urbanen. Traurig, dass Alvar die Eröffnung dieses Theaters nicht mehr erlebt hat. Immerhin hat die ungebührliche Verzögerung seiner Errichtung dazu geführt, dass die bühnentechnischen, klimatischen und energetischen Ansprüche behutsam an die fortschreitende Gegenwart angepasst werden konnten. Aaltos Credo einer Architektur für den Menschen ist im Musiktheater Essen Wirklichkeit geworden. Und hiermit sind nicht nur die Sänger und Musiker bei der Aufführung einer Wagner-Oper gemeint, sondern vor allem die Besucher, die wegen des Werkes und wegen der Spielstätte gleichermaßen den Weg ins hässliche Essen auf sich nehmen.

A100

Ganz am Ende des Buches steht nach all der Tristesse ein versöhnliches Bild. Eine Gruppe Radfahrer, Männer wie Frauen, Alte wie Kinder, fahren im Tross über die ganze Fahrbahnbreite verteilt aus einem Autobahntunnel Richtung Betrachterin, die Gegenspur ist leer. Dieses Bild wurde aufgenommen anlässlich der regelmäßig im Juni eines Jahres stattfindenden Sternfahrt, mit der Fahrradfahrer auf die Notwendigkeit hinweisen, mehr sichere Radwege in der Stadt zu bauen. Auf geradezu rührende Weise reklamieren sie für ein paar Stunden im Jahr auch die A100 für sich, die ikonisch wie kein anderes Bauwerk den destruktiven Geist der Stadt einfängt.

Die A100, die Stadtautobahn durch den westlichen Teil Berlins, geht zurück auf Planungen der unmittelbaren Nachkriegszeit. Errichtet wurde die halbkreisförmige sechsspurige Schnellstraße von den 1960er Jahren an, der Hochzeit der autogerechten Stadt, die dem ungehinderten Fluss des automobilen Verkehrs alle anderen Aspekte des urbanen Lebens unterordnete. Also durchschneidet die A100 auf ihren derzeitigen 28 Kilometern mitleidlos Wohngebiete, Gewerbeflächen und Grünanlagen; die Zubringertrasse AVUS zerbricht obendrein den Grunewald in zwei ungleich große Areale. Durch den Abriss einer Brücke in der Nähe eines viel befahrenen Dreiecks am Funkturm in der Karwoche erhält die A100 drückende Aktualität; wegen der damit einhergehenden Sperrung eines Streckenabschnittes wälzt sich der umgeleitete PKW-Verkehr durch die anliegenden Quartiere.

Der Fotograf Rolf Schulten ist die A100 zwischen 2021 und 2023 vom Wedding bis nach Schöneberg mit dem Fahrrad abgefahren und hat an zahlreichen Stellen das Betonband fotografiert. Dabei ging es ihm darum, die Autobahn ohne fahrende und stauende PKW und LKW abzubilden, wie sie die Alten noch aus der Zeit der Ölkrise 1973 kennen; frühe Morgenstunden und Geduld haben ihn Momente voll unerwarteter Leere einfangen lassen, die nun in einem Bildband der besonderen Art erschienen sind. Entstanden ist ein seltenes Porträt einer so allgegenwärtigen wie monströsen Verkehrsskulptur im Stil des Brutalismus, die mehr scheidet, als sie verbindet.

Eine Straße ist zwangsläufig mehr als die direkte Verbindung zwischen zwei Punkten. Sie wirkt zugleich als scharfe Differenz auf ihre Umgebung, als Grenze, die nur mit großer Vorsicht und oft unter Lebensgefahr überschritten werden kann. Dieses trennende Prinzip wird bei der Autobahn ins Extrem getrieben: Sie ist per definitionem dem motorisierten Verkehr vorbehalten, ihre abfallenden Wälle, ihre Stützpfeiler und vor allem der Baustoff Beton wirken wie die Elemente einer Grenzsicherung, die den alleinigen Sinn des Abstandhaltens haben. Ohne große Übertreibung kann die A100 als die zweite Berliner Mauer bezeichnet werden, die, anders als ihr Pendant des Kalten Krieges, keineswegs auf ihren Fall zusteuert, sondern unverdrossen auf einen Ausbau samt Modernisierung.

Das einstige Freiheitsversprechen der individuellen Motorisierung des Verkehrs hat sich längst in sein Gegenteil gewendet; der Stau, die Blockade, die Enge und der damit einhergehende Stress sind zum Signum des städtischen Verkehrs geworden. Doch vollzieht sich auf der Ebene der Verkehrspolitik das Paradox: Anstatt an Lösungen zur Reduzierung des gegebenen PKW-Bestandes zu arbeiten, werden noch mehr Straßen gebaut, die nur noch mehr Autos anziehen, die im Sinne einer hässlichen Mode größer, schwerer, höher und breiter werden und damit den Flächenfraß der Straßen samt der ergänzenden Infrastruktur aus Parkhäusern, Tankstellen, Ladesäulen, Werkstätten, Schildern, Schrottplätzen, Ampeln und Abstandsgrün nur noch befördern. Die automobile Gewalt hat eine unheilvolle Eigendynamik gewonnen.

Die Bilder des genannten Bandes geben der Betrachterin die Gelegenheit des Innehaltens und des ruhigen Blicks, der besonders geeignet ist, die sozialen Kosten der hemmungslosen Priorisierung des PKW-Verkehrs herauszustellen. Eine Aufnahme zeigt ein Mehrfamilienwohnhaus in der Nähe des ICC, das nur eine Handbreit von der Stadtautobahn entfernt liegt. Die Fassade ist durch die jahrelange Abgasexposition längst fahl und schmutzig geworden, alle Fenster sind geschlossen, auf den Balkonen ist kein Mensch zu sehen. Wer würde angesichts des stehenden Lärmes und der stickigen Luft auch nur zum Rauchen einer Zigarette auf den Balkon treten, geschweige dort ein Frühstück am Sonntag einnehmen? Der Wert dieser Immobilie wird durch die A100 sicher nicht gesteigert, bessere Viertel liegen abgeschieden und privat etwa im Westend oder am Schlachtensee.

Eine andere verstörende Aufnahme geht über die Gräber eines alten Friedhofes hinweg, durch die kahlen Bäume schimmert das nahe Asphaltband, Hinweisschilder zu Ausfahrten geraten ins Visier. Welche Seele könnte hier die ewige Ruhe finden? Eine andere Ausnahme zeigt längst aufgegebene, überwucherte und verrottete Gleise, über die sich in geringer Höhe die hellbeige Barriere eines Autobahnabschnittes spannt. Das sind die griffigen Folgen einer irrationalen Bevorzugung der Straße vor der Schiene, die entlang der alten Gleise eine für nichts nutzbare Brache entstehen lässt. Nicht einmal die ausgesprochen adaptiven Füchse, die längst im Zentrum der Metropole heimisch geworden sind, zeigen sich an diesem Unort. Im Zuge der Nachverdichtung wurde in Wilmersdorf binnen zweieinhalb Jahren ein schmaler Wohnriegel zwischen S-Bahn und Autobahn hochgezogen, der mit seinen blinden Fenstern wie ein begehbarer Schallreflektor wirkt.

Eine besondere Stärke eignet den Bildern, die aus der Froschperspektive aufgenommen wurden. Wie die Deckel eines Sarkophages liegen die Brücken der A100 gebieterisch über dem Geschehen, kaum Platz lassend für ein wenig mehr als zackige Graffiti auf dem Beton der Fundamente, mit denen unermüdliche Sprayer ihre Reviere markieren. Auf einem Bild ist eine wacklige Laube im abgetretenen Gras auszumachen. Solche Motive kennt man eher aus den Slums der Dritten Welt, wer will verscharrt unter der abweisenden Trasse leben oder sich hier auch nur aufhalten? Überhaupt haben Menschen es schwer an diesen Orten des Transits. Verloren wirkt ein Jogger, der sich ungläubig umschaut, als suchte er den Ausweg aus diesem steinernen Hades. Eine junge Skaterin hantiert mit ihrem Rollbrett, immerhin ist der Asphalt unter dem Brückendach glatt. Die Assoziation zu einem Gefängnishof, der keine Perspektive der Freiheit kennt, drängt sich auf.

Von einigen Bildern geht indes ein meditativer Sog aus, das sind jene, die vom eigentlichen Zweck der Autobahn abstrahieren können. Ein Zubringer schlängelt sich im hellen Tageslicht, es dominieren die geschwungenen Linien der Fahrbahnmarkierungen und der Leitplanken, eingefasst von Rasenresten. Die Kacheln an den Wänden eines Tunnels schimmern im schwachen Licht der Scheinwerfer, doch auch dies ein Ort zur Flucht. Eine Zufahrt geht einige Meter nach unten, trotzdem ist eine hohe Lärmschutzwand nötig, die endlos gerastert auch als Sichtblende fungiert. Sollen die Fahrer in ihren klimatisierten Blechen vom Elend der dreck-, krach- und vibrationsgeplagten Anwohner nicht behelligt werden? Nahezu Frieden verheißt ein diagonal eingefangener leerer Streckenabschnitt, der im Stile Gerhard Richters etliche Abstufungen in Grau anbietet. Doch auch hier ist es nur die Ruhe vor der jeden Moment ausbrechenden automobilen Sintflut.

Zeigen die zitierten Stillleben nun die Vergangenheit oder die Zukunft des motorisierten innerstädtischen Verkehrs? Die Aufnahmen selbst geben darüber keine Auskunft, dafür umso mehr die Projektierungen des Bundesverkehrswegeplanes. Der Abschnitt zwischen den Stadtteilen Neukölln und Treptow befindet sich kurz vor der Fertigstellung, für die Weiterführung Richtung Nordosten existieren schon verbindliche Planungen. Die A100 soll durch die östlichen Stadtteile Friedrichshain, Lichtenberg und Pankow weitergeschlagen werden, ein Schließen des würgenden Autobahnrings um das städtische Zentrum in den kommenden zwei Jahrzehnten wird damit drohende Realität. Die Kosten für den laufenden Kilometer beziffern sich auf rund 450 Mio. Euro.

Coup d’état

Ein kluger Herrscher kann und darf daher sein Wort nicht halten, wenn ihm dies zum Nachteil gereicht und wenn die Gründe fortgefallen sind, die ihn veranlaßt hatten, sein Versprechen zu geben. – Niccolò Machiavelli, Il Principe

Die Wahl zum neuen Bundestag liegt noch keinen Monat zurück, dessen konstituierende Sitzung ist für die kommende Woche angesetzt. Ohne jede Parallele in der Geschichte des deutschen Parlaments nach 1945 hat der alte Bundestag nun im Vorbeigehen in einer Hals über Kopf anberaumten Sondersitzung eine Änderung des Grundgesetzes auf den Weg gebracht, die der neuen Regierung im neuen Parlament einen gewaltigen finanziellen Spielraum einbringen soll. Es geht im Kern um das Aufweichen der Schuldenbremse, die der Kreditaufnahme des Bundes Grenzen setzt – und die der designierte Kanzler im zurückliegenden Wahlkampf noch für sakrosankt erklärt hatte.

Ein Coup ist ein riskantes, am Ende gelungenes Unternehmen. Der Begriff ist entlehnt aus dem französischen coup, was so viel wie der Streich oder der Schlag bedeutet. Als solcher darf das Vorgehen der Unionsfraktion im 20. Bundestag gelten, wo sie sich zwittrig als Opposition wie als Regierung gebärt. Der von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD – den mutmaßlichen Koalitionären der 21. Legislatur – eingebrachte Gesetzentwurf (Drucksache 20/15096) sieht Änderungen der Artikel 109 und 115 sowie die Schaffung eines neuen Artikels 143h der Verfassung vor. Diese führen zum einen zur Schaffung eines „Sondervermögens“ (also zusätzliche Schulden, die vom regulären Haushalt ausgenommen sind) in Höhe von 500 Mrd. € für die Infrastruktur; zum anderen zur Ertüchtigung der Bundeswehr dadurch, dass Verteidigungsausgaben, die ein Prozent der nationalen Wirtschaftsleistung überschreiten, von der Schuldenbremse ausgenommen werden. Zudem können unter Militärausgaben künftig auch Zivil- und Bevölkerungsschutz, IT-Sicherheit, Nachrichtendienste sowie „Hilfe für völkerrechtswidrig angegriffene Staaten“ fallen.

Warum diese halsbrecherische Hektik bei einer keineswegs trivialen Änderung des Grundgesetzes? Der gegenwärtige Oppositionsführer und wohl künftige Kanzler begründet diesen Streich im genannten Gesetzentwurf mit der sich verschärfenden Weltlage: Die USA wandelten sich vom Bündnispartner zum unsicheren Kantonisten, seien nicht länger unbedingter Garant für Freiheit und Sicherheit Deutschlands und Europas. Daher müsse Deutschland deutlich mehr als bisher für seine Verteidigung ausgeben. Neben dem Minus der Ausgaben für die Armee schleppe Deutschland zudem ein Investitionsdefizit für die Infrastruktur mit sich herum, seien es Schulen, Straßen und Brücken, Krankenhäuser, digitale Netze und Schienen. Diese Leistungen sind teils vom Bund, teils von den Ländern, teils in Kooperation zu erbringen. Warum die Verfassungsänderung aber unbedingt noch vor der Konstituierung des neu gewählten Bundestages über die Bühne gebracht werden soll, verschweigt der Kanzler in spe schamhaft.

Die Vorstellung wird auf den letzten Metern der 20. Legislatur gegeben, weil es die alte 2/3-Mehrheit aus Union, SPD und Grünen gerade noch so erlaubt; ein Zusammengehen mit der AfD und den Linken in der 21. Legislatur gilt definitiv als ausgeschlossen („Brandmauer“). Mit anderen Worten: Der alte, abgewählte 20. Bundestag soll der kommenden Regierung im 21. Bundestag einen schwindelerregend vergrößerten finanziellen Spielraum verschaffen; simultan dazu verhandeln die Union und die SPD über die Bildung einer Regierung, die dann der 21. Bundestag mit absoluter Mehrheit wählen soll. Hier wird eine Zwischenzeit des Parlaments durch perfide Verfahrenstricks für das komfortable Regieren in der 21. Legislatur missbraucht – daran kann man ohne böse Absicht einen Coup d’état erkennen. Derweil sitzen die Ruinen der noch geschäftsführenden Regierung wie Untote im Plenarsaal, von ihrer Funktion einstiger Intendanten zu jener der Rezensenten degradiert.

Die in den letzten Wochen heftig umworbenen Grünen lassen sich ihre Kollaboration bei dieser Tragödie teuer bezahlen: Vom sogenannten Sondervermögen in Höhe von 500 Mrd. € fließen 100 Mrd. € in den Klima- und Transformationsfonds (KTF); weitere 100 Mrd. € sollen den Ländern zukommen, die im Bundesrat noch zustimmen müssen. Zudem soll die „Klimaneutralität bis 2045“ als Staatsziel in die Verfassung aufgenommen werden. Hiermit haben die Grünen mehr für sich und ihre Klientel erreicht, als sie in den zurückliegenden Jahren in der Regierung je zuwege gebracht haben. Voller Chuzpe weist hingegen der Vorsitzende der CDU den Vorwurf eines eklatanten Bruchs seiner Wahlversprechen zurück: Es werde mit ihm keine Erhöhung der Steuern und kein Antasten der Schuldenbremse geben. Tja.

Es ist erst das vierte Mal, dass ein abgewählter Bundestag vor der Konstituierung des neu gewählten zusammenkommt, aber eine Premiere, dass es sich dabei nicht um eine symbolische Sitzung handelt. Das bizarre Auftreten der Union und der sekundierenden Sozialdemokraten ist geeignet, das Vertrauen der Wähler, immerhin der viel beschworene Souverän, in das Funktionieren der Institutionen der Republik zu untergraben. Dazu trägt auch der enorme Zeitdruck bei, mit dem die Verfassungsänderung durchgepeitscht wurde, inklusive Sondersitzungen aller Ausschüsse des Bundestages am Sonntag vor der Abstimmung, ohne eine bei Gesetzentwürfen übliche öffentliche Anhörung externer Sachverständiger. Selbst Abgeordnete der federführenden Christdemokraten klagten hinter vorgehaltener Hand, ihnen bliebe zu wenig Zeit, die Materie zu verstehen und zu einer reifen Entscheidung zu gelangen.

Zur Einordnung: Der – abgelehnte – Haushaltsentwurf 2025 sah an Ausgaben des Bundes eine Gesamtsumme von 488 Mrd. € vor, davon sollten 53 Mrd. € auf die Verteidigung entfallen. Das von der NATO, namentlich den USA, geforderte Ziel an Verteidigungsausgaben sieht Aufwendungen in Höhe von mindestens zwei Prozent der nationalen Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt, BIP) des jeweiligen Mitgliedsstaates vor. Das wären für Deutschland bei einem BIP von 4.305 Mrd. € im Jahr 2024 rund 86 Mrd. €. Dass diese Differenz geschlossen werden soll, mutet nachvollziehbar und dringend an – allerdings gehören die Verteidigungsausgaben dauerhaft in den Kernhaushalt und nicht in einen vom Parlament nicht mehr zu kontrollierenden Schattenhaushalt à la Sondervermögen.

Die Bruttoschulden Deutschlands belaufen sich im Jahr 2023 auf knapp 63 Prozent des BIP, in Frankreich sind es 109 Prozent, in Italien sind es groteske 134 Prozent, in den Niederlanden sind es lediglich 45 Prozent, in den USA sind es jedoch 122 Prozent. Bei wem sich der Bund demnächst verschulden will, ist unklar: Bei Geschäftsbanken, beim Internationalen Währungsfonds, bei der Europäischen Zentralbank, über Anleihen beim eigenen Volk? Das Hasardspiel der Union ist jedenfalls geeignet, das Triple-A-Rating Deutschlands als Schuldner aufs Spiel zu setzen und damit die Kreditaufnahme mittelfristig zu verteuern. Von einer Konsolidierung der Bundesfinanzen durch Sparen war bei der Debatte rund um die Grundgesetzänderung im Plenum keine Rede. Man darf auf den Haushalt für 2025 gespannt sein, den die kommende Koalition sicher gern vor der parlamentarischen Sommerpause unter Dach und Fach hätte.

CDU/CSU und SPD hatten Glück mit ihrem hohen Einsatz, in seiner letzten Sitzung billigte der 20. Deutsche Bundestag mitten in der Fastenzeit das Finanzpaket mit der notwendigen Mehrheit. Nach der zu erwartenden Zustimmung auch des Bundesrates am Freitag steht der Wahl des Unionsvorsitzenden zum zehnten Bundeskanzler in der Woche nach Ostern nichts mehr im Wege, unterstellt, dass die Parteien den auszuhandelnden Koalitionsvertrag nicht noch blockieren. Er wird seine Amtszeit mit einer mächtigen Hypothek beginnen, finanziell wie glaubwürdig.

LX

Im warmen Dunkel
Ouvertüre Tannhäuser
Zur Auferstehung
Tränen statt Erklärungen
Kreatur vom Brunnengrund

Mare Baltikum
Danzig Riga Helsinki
Vertraute Ferne
Europa so wie früher
Wasser lädt zur Wandlung ein

Schule des Gesangs
Wiederholung des Gebets
Geheimnis Glaube
Defilee zur Kommunion
Der Raum bereit für Christus

Brett in Schwarz und Weiß
Für sprechende Figuren
Bobby und Garri
Zeitnot Zugzwang Zwischenschach
Denken voller Kunst bei sich

Horror des Frühlings
Das harte Licht kehrt zurück
Turteln im Café
Der Schutz der Kälte schwindet
Zu viele schöne Körper

Den Arm lang machen
Unter Wasser ausatmen
Schwerelosigkeit
Optimal horizontal
Im tonlosen Element

So bar der Kinder
Evolutionär versagt
Einsames Dasein
Unfreiwillig unbemannt
Gehenkt am Dauerpranger

Leben mit Büchern
Als Teil des Gelesenen
Texte als Freunde
Erquickendes Quellwasser
Schönheit Rettung Phantasie

Die Schmerzen wogen
Das Knie lässt sich nicht strecken
Laufen war einmal
Das Fahrrad wird zum Rollstuhl
Gonarthrose progredient

Lob des Vergessens
Bruder Hypnos bleibt zur Nacht
Schwester Lethe tagt
Leere Stille Ablösung
Ziel der Exerzitien

Gewaltenteilung
Trügerisches Renommee
Semikriminell
Das Milieu des Parlaments
Auf Seiten der Verbrecher

Jahrzehnte Latenz
Unverminderter Ausbruch
Zur Behinderung
Stopp jeder Karriere
Karikatur des Geschlechts

Wiederaufbau

Wie sähe der Wiederaufbau der europäischen Stadt nach dem Ende des Autos aus? – Andrea Warnekros

Mit der Epochenschwelle 1989/91 endete die Sowjetunion, das perfide Menschheitsexperiment des Kommunismus wurde für gescheitert erklärt. Zu seinen bis heute sichtbaren Hinterlassenschaften gehören die großen Wohnsiedlungen an den Rändern der Städte des Sojus, die sich unheimlich gleichen, ob sie nun in Riga, Minsk, Bukarest, Danzig, Sofia oder Odessa stehen. Um das steinerne Erbe des zentral gesteuerten Bauens läuft bereits eine Diskussion der Denkmalpflege, einzelne Historiker feiern gar die Panelki genannten Plattenbauten. Der deutsche Architekt Philipp Meuser, der mit mehreren Büchern zum Bauen und zur Stadtplanung in den sozialistischen Ländern hervorgetreten ist, hat gemeinsam mit der ukrainischen Architektin Kateryna Malaia Ende 2024 ein Buch veröffentlicht, das Gebäudetypen und Bauserien der Ukraine abbildet. Ein Unterfangen, das während des laufenden Krieges neben der Bestandsaufnahme notwendig den Ausblick provoziert.

Philipp Meuser, Jahrgang 1969, Architekt und Verleger, gründete 2005 den auf Architektur und Stadtplanung spezialisierten Verlag DOM Publishers. Seit 2018 ist er Honorarprofessor an der Universität Kharkiv. Kateryna Malaia, Jahrgang 1988, studierte Architektur in Kiew und bekleidet derzeit eine Vertretungsprofessur an der Universität Utah. Ihr Schwerpunkt ist die (post-)sowjetische Architektur. Das Buch umfasst ein ganzes Jahrhundert, das mit der Gründung der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) 1922 beginnt und mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine sein Ende findet. Die erste Phase von 1922 bis 1938 ist dem spezifisch ukrainischen Wohnungsbau in der Frühzeit der UdSSR gewidmet, die zweite Phase von 1938 bis 1958 steht für Stalins Prunkbauten und das Ende der Moderne, die dritte Phase von 1958 bis 1984 schildert das serielle Bauen unter und nach Chruschtschow, die vierte Phase von 1984 bis 2008 erfasst die späte Sowjetunion und die Oligarchen-Jahre unter wackliger Freiheit, die abschließende fünfte Phase von 2008 bis 2022 dokumentiert den sogenannten Turbokapitalismus ausländischer Investoren und die Renaissance des Urbanen. Die – noch kaum zu bemessende – sechste Phase wäre schließlich eine Darstellung der Zerstörungen während des Krieges und des anschließenden Wiederaufbaus.

Auf den ersten Blick kommt das Buch wie ein lieblicher Katalog des öffentlichen Bauens in der Ukraine im Verlauf der Jahrzehnte daher, versetzt mit den typischen Abkürzungen für einzelne Bauserien: I-438, I-302, II-57, APPS-Lux. Verblasste Fotos, detaillierte Pläne, Grund- und Aufrisse sowie Modelle erzählen an ausgewählten Beispielen aus Kiew, Lviv, Odessa, Jalta, Mariupol, Chernihiv, Dnipro und Cherson die Geschichte des Wohnungsbaus in der Ukraine, mehrheitlich als Sowjetrepublik, ergänzend für die Zeit nach der Unabhängigkeit 1991. Die beiden Autoren sind im Sommer 2022 erneut an den Dnepr gereist, ihre seinerzeit gemachten Fotos geraten nolens volens zu Zeugnissen des Krieges. Eine surreale Aufnahme zeigt ein 24 Stockwerke hohes Wohngebäude in Kiew, die Fassade angestrichen in leichtem Orange und blassem Lachs. Etwas oberhalb der Gebäudemitte zeigt sich ein über mehrere Stockwerke gehendes Loch nach einem Bombentreffer, Stahlträger hängen in der Luft, Wände sind herausgerissen, Decken kippen senkrecht, Staub strömt nach allen Seiten, Fensterrahmen sind verschoben. Und einige Meter weiter brennt ein Licht in einer Wohnung, weht eine Gardine im Wind, laufen Klimaanlagen weiter. Ob das Haus einsturzgefährdet oder notdürftig stabilisiert ist, lässt sich aus der Aufnahme nicht ablesen.

Die Entwicklungen des urbanen Planens und Bauens lassen sich im besprochenen Band an verschiedenen Aspekten ausmachen: Anfangs werden die Wände mit Ziegeln gebaut, mit der Ära Chruschtschow kommen die im ganzen Sojus verwendeten Panelki, also in der Fabrik vorgefertigte und auf der Baustelle eingesteckte Wandelemente inklusive Aussparungen für Türen und Fenster, zum Einsatz. Sind in den 1920er und 30er Jahren auch Mehrfamilienhäuser für Arbeiter im Foyer und an den Fassaden klassizistisch geschmückt, tritt wiederum mit Chruschtschow die pure Sachlichkeit ohne Schnörkel in all ihrer lähmenden Monotonie in den Vordergrund. Die in den 1970er Jahren errichteten Wohnhäuser scheinen schlecht zu altern, was sich an abblätterndem Putz, Wasserflecken und aus der Mode gekommenen Musterreliefs ablesen lässt. Anfang des 21. Jahrhunderts erschlossene Wohnblöcke, umgeben und durchsetzt von erstaunlich viel Grün, könnten mit ihrer unterkühlten Ästhetik schlanker Fenster und auskragender Balkone auch in den Häfen von Kopenhagen oder Rotterdam stehen. Ein kein zehn Jahre altes Wohnhaus in Odessa stellt sich in historisierender Pracht mit Loggien, Ziersäulen, Dekoziegeln, Gesimsen und Balkongittern dar – allerdings verrät die erbärmliche Deckenhöhe von höchstens 2,10 m die Enge hinter der effektheischenden Fassade.

Die russische Kriegsführung richtet sich beileibe nicht nur gegen im engen Sinn militärische Ziele, sondern nimmt konkret die Ausdauer und die Kraft der Zivilbevölkerung ins Visier: Russische Artillerie, unterstützt durch wendige Drohnen, nimmt Schulen, Krankenhäuser, Einkaufszentren, Fabriken und Wohnhäuser unter Feuer, zusätzlich Straßen, Brücken, Häfen und Flugplätze, nicht zuletzt Einrichtungen kritischer Infrastruktur wie Elektrizitätswerke, Kläranlagen, Getreidespeicher und Tanklager. All das geschieht unter einer unfassbar kalten Verachtung des einzelnen menschlichen Lebens – Schätzungen belaufen sich auf bis zu 1.000 gefallene beziehungsweise schwer verwundete russische Soldaten pro Tag. Die meisten von ihnen werden ihren Familien gegenüber als „vermisst“ gemeldet, um der Armee die versprochenen Witwenrenten zu sparen. Hinzu kommt, dass der ganze Donbass im Wortsinn ein einziges Minenfeld ist, an eine landwirtschaftliche Nutzung dieses Gebietes in den kommenden Jahren nicht zu denken ist.

Seit Beginn des Krieges haben die USA rund USD 114 Mrd. an Unterstützungsleistungen an die Ukraine geliefert, davon knapp USD 66 Mrd. an eigens militärischer Hilfe. Damit sind die USA mit Abstand größter Waffenlieferant der Ukraine, hinzu kommt etwa die wichtige Satellitenaufklärung über das private Starlink-Netzwerk. Deutschland kommt für den bisherigen Kriegsverlauf auf eine Unterstützungssumme für das Militär in Höhe von € 28 Mrd.; die Kosten für die Unterbringung der gut 1,3 Mio. ukrainischen Flüchtlinge in Deutschland sind darin ebenso wenig enthalten wie die drastisch gestiegenen Kosten zur hiesigen Energieversorgung als Folge der Beteiligung Deutschlands an den EU-Sanktionen gegen Russland. Die Ukraine hat nach eigenen Angaben bisher etwa 45.000 gefallene und weitere 390.000 zum Teil schwer verwundete Soldaten zu beklagen, zu Verlusten unter der Zivilbevölkerung schweigt sich die Administration aus. Anfang Januar 2024 galten etwa 250.000 Wohngebäude in der Ukraine als beschädigt oder gar zerstört.

Die Weltbank schätzt, dass es dereinst etwa USD 524 Mrd. kosten werde, die Schäden des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine zu beseitigen. Wer diese enormen Gelder des Wiederaufbaus des geschundenen Landes über welchen Zeitraum aufbringen solle, bleibt seitens der zitierten Studie unerwähnt. Die US-Amerikaner unter ihrem altneuen Präsidenten sind die einzigen, die bisher den Wert und den Preis der gewährten und projektierten Hilfen beziffern und den Gedanken einer Refinanzierung ins Gespräch bringen; der ursprüngliche Plan, die in der Ukraine lagernden Seltenen Erden durch US-Konzerne erschließen und abbauen zu lassen und dergestalt die gewaltigen Summen zumindest tendenziell einzuspielen, ist nach dem offen ausgetragenen Streit von Washington zwischen dem ukrainischen und dem US-Präsidenten erst einmal vom Tisch. Darüber hinaus hat die US-Regierung jede weitere Ukraine-Hilfe bis auf weiteres gestoppt. Im schlimmsten Fall schlüge gerade fern ab jeden Friedens eine Stunde Null mitten im Krieg, die eine weitere Unterstützung der Ukraine gegen die russische Aggression auf andere Füße würde stellen müssen.

Die Ukraine ist zwar überwiegend ein Agrarland, die Bevölkerung lebt aber zu mehr als zwei Dritteln in städtischen Regionen. Sie ist anders als Deutschland kein Mieterland, die Wohneigentumsquote liegt bei über 85 Prozent. Nach dem Kollaps der Sowjetunion ging der staatlich reglementierte Bestand sukzessive an die Bewohner über. Allerdings wurde es 1991ff. versäumt, den neuen Eigentümern auch einen Teil des Grundstücks zu übertragen, dieses verblieb beim trägen, an Erhalt und Pflege weitgehend desinteressierten Staat. Diese Nachlässigkeit im Umgang mit umbautem Raum zeigt sich auch beim Verkauf von Wohnungen; diese sind in der Regel unverputzt und verfügen über keinerlei technische Ausstattung, sodass es dem neuen Eigentümer obliegt, nicht nur zu tapezieren, sondern sich auch um Strom, Wasser, Heizung und dergleichen zu kümmern. Ein besonders rührendes Foto des besprochenen Bandes zeigt eine Tiefgarage, die mit Matratzen, Konserven, Decken und Wasserflaschen zu einem Luftschutzbunker umfunktioniert wurde.

Wenn der Wiederaufbau der geschundenen und teilweise zerstörten Städte beginnen kann, wird es in erster Linie darum gehen, rasch Wohnraum für die Bevölkerung zu schaffen. Es braucht zunächst die Bergung der zahllosen Minen und nicht explodierten Bomben, Abraumhalden für den Schutt, Kenntnisse und Geräte zur Identifizierung und Wiederverwertung kostbarer Trümmerteile, einen Anschluss an die städtische Infrastruktur, eine Anschubfinanzierung für den Baubeginn, eine sozial verträgliche Priorisierung bei der Vergabe neu erbauter Wohnungen speziell in den urbanen Zentren. Auch gilt es den unversehrten Bestand auf weitere Tauglichkeit hin zu prüfen und ihn gegebenenfalls mit zu ersetzen. Welche Stilelemente und Materialien die künftige Nachkriegszeit prägen werden und wie lange ihre Halbwertzeit sein wird, lässt sich heute nicht seriös abschätzen. Allerdings steht es zu vermuten, dass sich die Nachkriegsukraine vom kyrillischen Alphabet, das auch vom verhassten russischen Nachbarn benutzt wird, abwenden wird. Schon jetzt, so zeigt es der vorliegende Band, dominieren in den jüngeren Vierteln ausländische Unternehmensmarken das kommunikative Bild der Straßen. Und die schreiben sich selbstredend im lateinischen Alphabet.

Boris

Spasski ist ein kompletter und absolut universeller Spieler. Er konnte gleichermaßen gut angreifen, verteidigen und positionelle Vorteile anhäufen. Er war es, der die Mode der Universalität schuf, die bis auf den heutigen Tag lebendig ist. – Anatoli Karpow

Wie schafft man es, als Weltmeister seiner Disziplin immer nur als Komparse genannt zu werden? Indem man gegen einen Herausforderer verliert, der ein bis dato unbekanntes Niveau erreicht und dergestalt die Grenzen der Profession verschiebt. Genau das geschah im Sommer 1972, als sich Boris Spasski und Bobby Fischer in Reykjavik um den Titel des Schachweltmeisters duellierten. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges entriss der Amerikaner Fischer dem Russen Spasski die WM-Krone und unterbrach die sowjetische Dominanz im Schach. Die Behörden der UdSSR empfanden diese Niederlage ihres Spielers als Affront und strichen ihm die staatliche Unterstützung. Spasski hingegen zeigte sich erleichtert, nicht länger die Bürde des Weltmeisters schultern zu müssen.

Boris Spasski wurde am 30. Januar 1937 im seinerzeitigen Leningrad geboren. Rechtzeitig vor der mörderischen Blockade der Stadt an der Newa durch die Wehrmacht 1941 wurde er in die Region Kirov evakuiert; das Schachspiel erlernte er mit fünf Jahren, ernsthaft widmete er sich dem Spiel nach der Rückkehr in seine Geburtsstadt 1946. Er profitierte davon, dass die sowjetischen Behörden das Schach sowohl in der Breite als auch der Spitze systematisch förderten und den Anspruch erhoben, die UdSSR zur globalen Führungsmacht im Schach zu machen. Im Pionierpalast Leningrads traf er auf den Trainer Vladimir Zak, der den Jungen zu einem vielversprechenden Spieler formte, der eine Vorliebe für ein bewegliches Zentrum, den Königsangriff und rechenintensive taktische Stellungen zeigte. 1953 besiegte er bei einem Turnier in Bukarest den nachmaligen Weltmeister Vassily Smyslov, 1955 verlieh ihm der Weltschachbund FIDE den Titel eines Großmeisters – als damals jüngstem Spieler überhaupt.

Anders als bei seinem Generationenkollegen Mikhail Tal verlief Spasskis weiterer Weg nicht so kometenhaft. Sein unzweifelhaftes Talent für das Spiel traf auf eine gewisse Lethargie hinsichtlich des Trainingsfleißes. Zwar teilte er 1958 den 1. Platz der Meisterschaft der UdSSR (die er 1961 und 1973 erneut gewinnen sollte), bei mehreren Kandidatenturnieren zur Qualifikation für ein WM-Match lieferte er aber nur durchwachsene Leistungen ab. Erst als Anfang der 1960er Jahre Igor Bondarewski sein Trainer wurde, entwickelte sich sein Schach in Richtung absolute Spitze. Er gewann 1966 in Santa Monica den Piatigorski-Cup, damals eines der wenigen privat organisierten und gut dotierten Turniere mit internationaler Besetzung. Im selben Jahr unterlag er dem amtierenden Titelträger Tigran Petrosian, der in den Eröffnungen schlicht besser präpariert war.

Spasski bewies Ausdauer, durchlief den mühsamen Qualifikationszyklus um die WM ein weiteres Mal und forderte Petrosian 1969 in Moskau erneut. Diesmal behielt er souverän die Oberhand und erntete die Früchte jahrelanger Arbeit. Als er dann nach drei Jahren gegen Fischer den sogenannten Wettkampf des Jahrhunderts verlor, wurde er wegen angeblich schlechter Vorbereitung und unzureichender Leistung vom Sportkomitee gemaßregelt. Spasski zog mit seiner dritten Ehefrau nach Frankreich und spielte regelmäßig in der deutschen Bundesliga; seine Versuche, sich ein weiteres Mal für ein Titelmatch zu qualifizieren, scheiterten. 1992 erklärte er sich mitten im Jugoslawienkrieg zu einem Gespenstermatch gegen Bobby Fischer in Belgrad bereit, wohl aus Hilfsbereitschaft seinem so geschätzten wie schwer verwirrten Gegnerpartner von Reykjavik gegenüber. Danach saß er nur noch sporadisch am Brett, spielte gelegentlich simultan, kommentierte hier und da. Vor allem litt er unter den Folgen mehrerer Schlaganfälle, Anfang der 2010er Jahre zog er zurück nach Russland.

1970 kam es in Belgrad zum sogenannten Match UdSSR gegen den Rest der Welt. Zehn Großmeister der seinerzeit unbestritten dominanten Schachnation spielten gegen zehn Kollegen außerhalb des Sojus. Boris Spasski war als Weltmeister für das 1. Brett gesetzt, an dem er auf den Dänen Bent Larsen traf, der diese Position selbstbewusst für sich reklamiert hatte und damit den Amerikaner Bobby Fischer ans 2. Brett verwies. Im zweiten Umgang dieser reizvollen Veranstaltung spielten Larsen und Spasski eine Miniatur, bei der dem Weißspieler Hören und Sehen verging. Larsen eröffnete unorthodox mit 1.b3, Spasski antwortete mit 1.e5 und weiteren, naheliegenden Entwicklungszügen, während Larsen sich mit obskuren, antipositionellen Zügen verzettelte. Unter mehreren sehenswerten Figurenopfern drang Spasski leichter Hand in die weiße Stellung ein und erlegte den unrochierten König mitten auf dem Brett nach nur 17 Zügen. Eine köstliche Partie, die Erstaunen und Schadenfreude gleichermaßen aktivierte, bis heute ein Vergnügen beim Nachspielen.

Zum Spektakel in Reykjavik ist anzumerken, dass das Match, das wegen Fischers peinlichen Eskapaden mehrfach vor dem Abbruch stand, nur dank Spasskis Konzilianz überhaupt halbwegs geordnet durchgeführt werden konnte. Fischer kam erst mit tagelanger Verspätung auf Island an, fehlte bei der Eröffnung, wollte keine Kameras im Spielsaal, düpierte die Organisatoren, war mit der Beleuchtung und dem Spieltisch unzufrieden und forderte überdies mehr Geld. Langmütig nahm Spasski dieses kindische Gebaren seines Herausforderers hin, weil er sich schachlich mit ihm messen wollte. Offen widersetzte er sich den Anweisungen der sowjetischen Funktionäre, den Wettkampf einfach abzubrechen; angesichts Fischers grob unsportlichen Verhaltens hätte er jedes Recht dazu gehabt. Zum Glück für die Schachwelt kam es anders.

Die 1. Partie warf der Amerikaner durch einen Anfängerfehler im Endspiel weg, die 2. Partie verlor er durch Nichterscheinen. Spasski wahrte die Contenance und stimmte Fischers Diktat, die 3. Partie in einem kleinen Nebenraum ohne Publikum und Kameras zu spielen, zu. Als Lohn wurde er zum ersten Mal überhaupt von Fischer geschlagen. Als Fischer die 6. Partie überraschend mit 1.c4 eröffnete und in grandiosem Stil gewann, fing das Publikum spontan an, dem Amerikaner zu applaudieren – Spasski fiel nach dem Händedruck als Zeichen der Aufgabe in den Beifall ein, welch generöse Geste gegenüber seinem Widerpart. Weitere Höhepunkte der Auseinandersetzung waren die 10. und die 13. Partie, die Fischer zwar gewann, die aber ohne Spasskis couragiertes Zutun keine zeitlosen Kunstwerke geworden wären. Am Ende siegte der Amerikaner mit 12,5 zu 8,5 Punkten und wurde der 11. Schachweltmeister.

Während Fischer danach in der Versenkung verschwand und seinem Antisemitismus – als Jude! – hemmungslos freien Lauf lief, kultivierte Spasski den Habitus eines Bohemian und Bonvivant. Er, der mit seinem blendenden Aussehen und seinen monarchischen Ansichten so gar nicht ins graue Kollektiv der Sowjetunion passte, wurde gar Teil der Popkultur: Im James Bond-Film „Liebesgrüße aus Moskau“ wurde eine seiner berühmten Partien dargestellt. Spasski spielte halbseidene Eröffnungen wie das romantische Königsgambit und war zugleich der führende Experte der Breyer-Verteidigung der Spanischen Partie. Auf seine unterstellte Endspielschwäche angesprochen, antwortete er lakonisch, das sei nicht weiter schlimm, da er seine Partien im Mittelspiel zu gewinnen pflege. Am 27. Februar 2025 ist Boris Wassiljewitsch Spasski nach langer schwerer Krankheit gestorben, das Schach verliert einen Solitär.