Nobel

Give peace a chance – John Lennon

Der Oktober ist der Monat, in dem das zuende gehende Jahr Bilanz zieht. Am besten ablesbar ist es an der Bekanntgabe der Nobelpreise, den höchsten Auszeichnungen, die global in verschiedenen Disziplinen denkbar sind. Sie gehen zurück auf den Erfinder des Dynamits, Alfred Nobel, der von der zerstörerischen Wirkung des von ihm entwickelten Sprengstoffes so schockiert war, dass er mit der Stiftung seines Vermögens eine moralische Kompensation schaffen wollte. Ausgezeichnet werden sollten seit 1901 Personen und Organisationen, die einen Beitrag zur Befriedung der Welt leisteten.

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts sind weitere Nobelpreise hinzugekommen. Während die Entscheidungen des Komitees zu den Preisträgern in der Medizin, der Chemie und der Physik in aller Regel jene belohnen, die ihr Fach durch bahnbrechende Leistungen nach vorn gebracht und dergestalt das menschliche Leben freundlicher, sicherer und komfortabler gemacht haben, werden im Bereich der Wirtschaftswissenschaften die immergleichen Apologeten einer freien Marktwirtschaft ausgezeichnet. Der Literaturnobelpreis ist sicher derjenige in dieser Reihe, dessen Vergabe am schwierigsten ist. Welche Kriterien taugen, um eine Autorin zu würdigen, und zwar weltweit anerkannt? Vollends grotesk aber wird es bei der Vergabe des Friedensnobelpreises. In diesem Jahr hat sich, peinlich wie zu erwarten, der amtierende US-Präsident selbst vorgeschlagen – gottlob ist das Nobelkomitee in Oslo dieser Erpressung gegenüber standhaft geblieben.

Ein flüchtiger Blick auf die Liste jener, die den Preis in der Vergangenheit bekamen, zeigt die Ambivalenz der Ehrung. 2009 wurde der gerade gewählte US-Präsident Barack Obama ausgezeichnet – für seine wolkigen Ankündigungen, denen zahlreiche Drohnenmorde folgten, auch die Exekution Osama bin Ladens. 1973 bekam der seinerzeitige US-Außenminister Henry Kissinger den Preis – ausgerechnet jener Scharfmacher, der den Vietnamkrieg eskalierte. 2012 wurde mit der EU eine Wirtschaftsgemeinschaft ausgezeichnet, der schlicht die Mittel und der Wille fehlen, um Frieden zu schaffen. Regelrecht albern wurde es im Jahr 2001, als die Vereinten Nationen als Preisträger verkündet wurden – jene informelle Runde, die in ihren Resolutionen dauernd vom Veto eines der ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat blockiert wird. 1994 bekam mit Yasser Arafat ein bekennender Terrorist verzerrten Ruhm und echtes Geld.

Es sind die würdigen Ausnahmen, die den Nobelpreis von der Besudelung durch Grausamkeit, Menschenverachtung und Machtmissbrauch bewahren. Goldrichtig war die Verleihung 1964 an den US-Bürgerrechtler Martin Luther King, ebenso 1983 jene an den polnischen Gewerkschaftler Lech Walesa. Der Sowjetdissident Andrei Sacharow wurde 1975 ebenso zurecht gewürdigt wie die Ordensgründerin Mutter Teresa 1979. Im Jahr 2022 erhielt die mittlerweile verbotene russische Organisation Memorial den Preis für ihre beharrliche Dokumentation der Menschheitsverbrechen des Stalinismus, auch die ganz frühe Vergabe 1905 an die Autorin Bertha von Suttner („Die Waffen nieder!“) setzte das richtige Zeichen. Unterm Strich bleibt die Einsicht, dass der Friedensnobelpreis keinesfalls an Politiker, aktive wie ehemalige, gehen sollte, weil sie stets das Geschäft der Korruption, der Machtausdehnung und eben des Krieges betreiben. Es sind die unerschrockenen Aktivisten, Autoren, Humanisten und Helfer, die ihrem Treiben in den Arm fallen.

Als hätte es noch eines Belegs für diese These bedurft, lieferte der gegenwärtige US-Präsident ihn ungefragt. In gewohnt großmäuliger Manier reklamierte er die diesjährige Auszeichnung für sich – für was eigentlich? Wegen des Prestiges? Wegen der festlich gekleideten Gäste während der Verleihung in Oslo? Weil er vom Frieden in der Ukraine redet und den Iran bombardiert, Grönland annektieren will, das Militär im Inneren gegen Demonstranten einsetzt, das Verteidigungs- in Kriegsministerium umbenennt und Journalisten von seinen Pressekonferenzen ausschließt, die sein Gefasel vom Golf von Amerika nicht übernehmen? Das fünfköpfige Nobelkomitee in Oslo hat sich seiner Mafiadiktion bislang widersetzt und heuer eine defensive Entscheidung für eine venezolanische Oppositionspolitikerin getroffen. Mögen die Juroren standhaft bleiben angesichts des perversen medialen Drucks, den das Weiße Haus auf sie ausübt. Und mag die norwegische Regierung, immerhin ein NATO-Mitgliedsland, das Nobelkomitee nicht auf diplomatischem Wege dazu bewegen, in einem Akt der Unterwerfung den US-Machthaber im Jahr 2026 zu küren.

Zur Geschichte des Friedensnobelpreises gehört seine völlige Wirkungslosigkeit. Natürlich ist die Welt seit seiner Stiftung kein bisschen besser, gerechter, friedlicher und wohnlicher geworden. Hass, Neid, Missgunst und Gewalt sind um kein Jota zurückgegangen; mit alttestamentarischer Unerbittlichkeit gehen weiterhin Völker, Religionen, Nationen und Staaten aufeinander los, stets ausgerüstet mit den jeweils modernsten Waffen und den nur leicht variierten, uralten Rechtfertigungen. Diesen Schmerz muss jeder halbwegs sensible Mensch jeden Tag aushalten beim Lesen der Nachrichten. Und dann mit dem erloschenen Schweigen des Sisyphos den Brocken des Friedens den steilen Hang des Krieges hinaufrollen, im Wissen um die Vergeblichkeit und Unausweichlichkeit dieses Tuns. Politiker stehen bei dieser Übung auf der falschen Seite: Sie wollen, dass das Rauben, Vergewaltigen, Brennen und Morden weiter geht, solange es ihren Interessen dient.

Ein naiver Vorschlag für 2026: Die kanadische Sängerin Buffy Sainte-Marie, Jahrgang 1941, deren Lied „Universal Soldier“ 1965 in der Fassung von Donovan zu einer Antikriegshymne wurde. Sie könnte gleich zwei Nobelpreise einheimsen, den für Frieden und den für Literatur.